Übrigens …

Nichts. Was im Leben wichtig ist im Bayer Kulturhaus Leverkusen

Eskalation ordinär

Als (fast) alles vorüber ist, als Jan-Johan „gepetzt“ und der unerbittlichen Eskalation, die die Kinder der 7a in ihrem Kampf um den Nachweis des Vorhandenseins von Bedeutung im Leben angezettelt haben, ein Ende gesetzt hat, als der Fall untersucht ist und Rechtsanwälte und Zeitungsleute die Kleinstadt verlassen haben, wird die Stadt wieder so, wie sie immer war: „Langweilig, langweiliger, Leverkusen“, spotten die Münchner Schauspieler anlässlich ihres Gastspiels im Bayer Kulturhaus. Es ist das einzige Mal an diesem Abend, dass die Düsseldorfer und Kölner der Lachreiz kitzelt. Denn längst hat sie der Horror gepackt.

Eine knappe Stunde zuvor mochte man der Diagnose „Langeweile“ noch zustimmen. Janne Tellers Jugendroman „Nichts. Was im Leben wichtig ist“, der auch für Erwachsene ein so faszinierendes wie verstörendes Leseerlebnis ist, hatte nach seinem Erscheinen im Jahre 1999 extrem polarisiert, war lange für den Gebrauch an Schulen verboten und erschien erst mit zehnjähriger Verspätung in deutscher Übersetzung. Mittlerweile ist er in vielen Ländern Schullektüre und in Dänemark Abiturstoff. Viele Theater unseres Landes haben sich des Stoffes mittlerweile angenommen; am Schauspiel Essen inszenierte ihn Karsten Dahlem vor zwei Jahren mit temperamentvollen Spielszenen und überbordender Phantasie (theater:pur-Rezension siehe hier). Und jetzt kommt das Münchner Metropoltheater, mittlerweile nicht nur unter Insidern bekannt als eines der spannendsten und phantasievollsten Freien Theater in Deutschland, und macht zunächst nichts weiter als eine bessere szenische Lesung draus. Solange sich die vierzehnjährigen Kinder noch im Stadium eher pubertärer Auflehnung befinden, ist das langweilig. Aber dann…

Die Schüler lehnen sich nicht gegen die Eltern auf, sondern gegen ihren Mitschüler Pierre Anthon, der sie mit einem kalten nihilistischen Weltbild provoziert. Pierre Anthon ist ein Nihilist par excellence - „he’s a real nowhere man sitting in his nowhere land“, singen die sieben Münchner Schauspieler gleich zu Beginn. „Nichts im Leben bedeutet irgendetwas“, hatte Pierre Anthon verkündet. „Deshalb lohnt es sich nicht, irgendetwas zu tun.“ Sprachs und verließ die Schule, um fortan im Pflaumenbaum zu sitzen und Kerne zu spucken. Die Kinder beschließen, das Gegenteil zu beweisen, und bauen nach und nach einen „Berg aus Bedeutung“ auf, der aus all den Dingen besteht, die für die Kinder wichtig sind. Weil sie sich nur unter Schmerzen davon trennen.

Das beginnt ganz harmlos: mit nickenden Porzellanhunden oder einem kaputten Perlmuttkamm. Es setzt sich fort über Dennis‘ Lieblingsbücher, Sebastians Angelrute und Richards Fußball. Jochen Schölch, Leiter des Metropoltheaters und Dozent an der Bayerischen Theaterakademie August Everding, lässt seine Schauspielschüler den Romantext wortgetreu mit verteilten Rollen rezitieren. Mit ein paar Liedern, ein bisschen Musik und wenigen, oftmals in Zeitlupe choreografierten Spielszenen. Gähn! In dem riesigen, 800 Plätze fassenden Kulturhaus kommt solch zurückhaltende Spielweise nicht rüber.

Aber halt: Hatten wir nicht in Essen zu Beginn eine veritable Schulklasse erlebt, ein Team, lebensfroh, verspielt und mit herzerwärmenden Liebes-Szenen zwischen Jan-Johan und Sofie? Nichts davon in München: Die zehn Schauspielschüler zeigen uns zehn Ich-AGs. Wer dem Berg ein Stück hinzugefügt hat, darf bestimmen, welche(r) Mitschüler(in) als nächstes an der Reihe ist – und welches Opfer zu bringen ist. Und von Anfang an geht dies auf boshafte und intrigante Art und Weise vonstatten; mitleidlos wird der jeweilige wunde Punkt der Mitschüler gesucht und ausgenutzt. Von Mal zu Mal werden die Forderungen maßloser, die Opfer schmerzhafter, die Schüler rücksichtsloser. Kein Tabu, das nicht gebrochen wird – sämtliche ethischen und moralischen Standards werden über Bord geworfen. Da wird der Hamster geopfert, später der Kopf eines Hundes abgeschlagen. Wenn Marie-Ursulas blaue Zöpfe abgeschnitten werden, mag das vergleichsweise harmlos sein, doch so, wie die Schauspieler dies – erneut nur in Andeutungen – darstellen, wirkt es wie eine Vergewaltigung. Begleitet von einem harmonischen Liedchen: Langsam begreifen wir, dass die harmonische Musik die Schadenfreude und die Herzlosigkeit der Kinder illustrieren soll. Erste Eskalation ordinär: Die Kinderleiche von Elises zweijährigem Bruder wird ausgegraben und in ihrem Sarg auf den Berg gekippt. Eskalationsstufe 2: Der tiefgläubige Hussein muss seinen Gebetsteppich abgeben – sein Vater bricht ihm im Gegenzug die Arme. Eskalationsstufe 3: Sofies Jungfernhäutchen. Sofie verliert ihre Unschuld.

Wer bis jetzt noch sinniert hat, ob es das zurückhaltende Spiel der Akteure oder die Atmosphärelosigkeit des Kulturhauses ist, die der Aufführung die intendierte emotionale Wirkung nimmt, drückt auf einmal die Löschtaste im Kopf. Die Aufführung wird nun zu einem gnadenlosen Horrortrip. Judith Neumann als Sofie liegt mit dem Rücken auf einem der Ölfässer, die die Metapher für das Sägewerk darstellen, in der der „Berg aus Bedeutung“ aufgebaut wird, und wird de facto vergewaltigt. Und Judith Neumann ist diejenige, die nun mit ihrer Mischung aus Trauma-Starre und Rachedurst eine völlig neue Stufe der Eskalation zündet. Die Aufführung bekommt nun eine ungeheure Intensität. Herzlosigkeit steigert sich zu blankem Hass. Plötzlich nehmen wir auch die grandiosen Bilder wahr, die das Team auf die Bühne zaubert: Der fromme Kai muss aus der Dorfkirche den Jesus vom Kreuz holen. Es ist ein blasphemisches, aber – Verzeihung – auch ein wunderschönes Bild, wenn Martin Borkert mit nichts als einer Unterhose bekleidet auf einer Ölfass-Skulptur steht und die Arme ausbreitet wie Christus am Kreuz. Der Berg der Bedeutung wird immer gruseliger.

Das Ende: wird blutig. Der Kopf des Hundes fällt, und der Zeigefinger von Jan-Johan, des großartigen Beatles-Gitarristen, auch. „While my guitar gently weeps“ spielt die Soundtechnik ein. Ein lautes Knacken – drei Meter von Jan-Johan entfernt steht Sofie mit dem Messer – eine suggestive Szene. Warum ist es Sofie, die so bereitwillig zur Exekution des Gitarristen schreitet? Wir ahnen, welche Schuld Jan-Johans Finger auf sich geladen hat. „Seit der Sache mit der Unschuld hatte Sofie etwas Kaltes“, heißt es. „Kalt. Kälter. Frost, Eis und Schnee“. Hart ist sie geworden und emotional erstarrt. Gleichzeitig verraten die lodernden Augen von Judith Neumann: Die kalte Sofie wird innerlich von einem fundamentalistischen Feuer verzehrt.

Natürlich folgt noch der Abspann: die vorübergehende Verklärung des Bergs der Bedeutung zur Kunst, die Zerstörung des Sägewerks durch das Feuer, bei dem auch Pierre Anthon getötet wird. Der war bei seinen nihilistischen Ansichten geblieben, und der Erwachsene vermag ihm erschreckenderweise zu folgen. Jochen Schölchs Regiearbeit aber verdient jedwede Ovation. Schölch ist gleichzeitig rücksichtsvoll und rücksichtslos vorgegangen. Rücksichtsvoll, weil er keine der krassen Vorgänge zeigt, die in diesem Stück geschildert werden. Rücksichtslos, weil er uns – ohne ein Jota vom Originaltext abzuweichen – eine stärkere Eskalation zumutet als es der Roman tut. Er nimmt der Situation von Beginn an jede jugendliche Leichtigkeit. Nichts lässt sich hier entschuldigen als harmloses Kinderspiel, das sich verselbständigt hat. Sehr schnell sind diese Kinder zu erbarmungslosen Fundamentalisten geworden, die von geradezu religiösem Furor und biblischen Rachegefühlen getrieben werden. Die Verunsicherung und die Sinnsuche der Kinder wird unterspielt, ihr Zynismus und ihr Einzelgängertum herausgestellt. Und damit stellen Schölch und seine Protagonisten nicht nur das von Janne Teller geschriebene Werk über Existenzialismus und Nihilismus vor, sondern sie üben auch knallharte Gesellschaftskritik.