Polit-Poesie aus Palästina
Bereits im fünften Jahr pflegen die Vereinigten Bühnen Krefeld Mönchengladbach eine kleine Nische in der deutschen Theaterlandschaft, die vom Publikum und von der überregionalen Presse viel zu wenig wahrgenommen wird. In ihren kleinen Spielstätten, der Krefelder Fabrik Heeder und dem Studio des Theaters Mönchengladbach, zeigen sie außereuropäisches Theater: Stücke aus Nigeria, aus dem Iran, aus Japan oder aus Mexiko, meist inszeniert von Regisseurinnen oder Regisseuren, die zumindest Wurzeln in den Herkunftsländern der Stücke haben. Die libanesische Regisseurin Maya Zbib, Mitglied des Beiruter Theaterkollektivs Zoukak, beschäftigte sich mit einem Text eines der wichtigsten zeitgenössischen Autoren Palästinas, der in der vorletzten Spielzeit am Theater Krefeld zur Uraufführung kam und jetzt an das Theater Mönchengladbach wechselte.
Vor allem in Asien und Afrika benutzt das Theater sowohl sprachlich als auch ästhetisch für den deutschen Zuschauer ungewohnte Ausdrucksformen. Etwas Entdeckerfreude ist also oft Voraussetzung, um die spannende Theaterreihe der Verbundbühne wertschätzen zu können. Auch Machmud Darwischs Text überrascht mit einer sehr „undramatischen“ Form. Ein Gedächtnis für das Vergessen basiert auf einem Prosagedicht, das einen Tag im August 1982 während der israelischen Belagerung Beiruts beschreibt und stark autobiographische Züge des Dichters trägt. Darwisch hat unter anderem in Israel, im Libanon und in Frankreich gelebt, war zeitweise Redenschreiber des Palästinenser-Führers Jassir Arafat und Mitglied der Kommunistischen Partei Israels; längere Zeit über war er mit einer jüdischen Frau liiert. Spannender, zerrissener auch kann ein Lebenslauf in dieser Region kaum sein, und Reflektionen über dieses Leben, über eine solche Zerrissenheit bilden den Humus für die von der Regisseurin selbst vorgenommene Dramatisierung.
Auch wenn Zbib betont, sich auf die handlungsstärkeren Passagen konzentriert zu haben, behält Darwischs Text auf der Mönchengladbacher Bühne eine vorwiegend lyrische Form. Er beschreibt die Situation in der Beiruter Wohnung des Dichters während der israelischen Angriffe und mäandert assoziativ durch die private und politische Geschichte des Mannes, durch Bombenhagel und Liebesbeziehungen sowie durch das von Gleichgültigkeit bis zu strikter Ablehnung variierende Verhältnis zu israelischen und libanesischen Nachbarn und Bekannten. Während des größten Teils der 80minütigen Aufführung zeigt ein Video von Maya Chami in der unteren Hälfte das Meer, in der oberen Hälfte die stilisierte Uferansicht Beiruts oder Piktogramme von Einrichtungsgegenständen der Wohnung. Eine Kaffeetasse zum Beispiel. Kaffee ist die Metapher für Ruhe und Frieden sowie die im Krieg kaum möglichen Alltagsgenüsse. Doch die Zeit für einen Kaffee findet sich nicht.
„Die Zeit zwischen zwei Bomben (eines israelischen Angriffs) beträgt eine Sekunde“ - Kaffeekochen in dieser Zeit geht nicht. „Aber in Flammen aufzugehen - dafür reicht die Zeit.“ Kaum findet der Mann den Mut, seine Küche zu betreten, die in Sichtweite der Angreifer liegt: Der Krieg kommt vom Meer, wo die israelischen Kriegsschiffe liegen, und vom Wasser aus ist die Wohnung des Dichters zu sehen. Statt Kaffee gibt es Bomben. Schüsse. Krieg und Hass. Das Video zeigt die untergehende, im Meer versinkende Uferbebauung Beiruts, doch manchmal wogt der Krieg hin und her, und die Häuser erheben sich wieder ein wenig aus den Fluten. Daniel Minetti spielt den Dichter, den Privatmann voller Sehnsucht nach Frieden und Kaffee, der seine Beziehungen zu den Frauen, seien es seine Geliebten oder seine Nachbarn, und seine persönliche Geschichte reflektiert. Mit großem Einfühlungsvermögen für die verschiedenen lyrischen Farben des Texts spricht Minetti seine Rolle, mit Kopf und Herz, mit Reflektion und mit Liebe. Wobei er mehr Liebe zu seinem Land als zu seinen Frauen hat: „Nein, ich liebe dich nicht“, heißt es einmal: „Falls Liebe länger dauert als ein Schuss ins Genick…“ - Und Hass? Hasst der Dichter die Juden? Darwisch nimmt zwar die arabisch-palästinensische Position ein, doch ist es Hass? „Ich weiß nicht“, antwortet Minetti ausweichend: „Ich liebe Shakespeare, Mozart, Picasso …“
Eva Spott ist die Frau. Genau genommen ist sie viele Frauen. Temperamentvoll und lasziv, hart und einfühlsam, ablehnend und anlehnungsbedürftig - facettenreich versucht sie sich zu wehren gegen die Schwierigkeiten der Liebe in Zeiten des Krieges. Bruno Winzen als der „Zeuge“ ist so etwas wie das politische Alter Ego des Dichters. Er ist der Aufmüpfigere, Revoluzzerhaftere, der die politischen Gedanken reflektiert. Und weniger verzweifelt als vielmehr verärgert die fehlende Verständnisbereitschaft zwischen den Kriegsparteien bemängelt. Es mag rollenimmanent sein, dass ihm die Lyrik des Textes weniger liegt - im Ergebnis aber hört man Minetti lieber zu als Winzen. Allerdings hat die starke lyrische Ausrichtung des politischen Texts für den westlichen Theaterzuschauer ihre Klippen. Die besondere Nähe von Poesie und Politik sei es, was die zeitgenössische arabische Literatur ausmache, sagt Maya Zbib. Darwisch gelingen immer wieder einzelne großartige poetische Formulierungen, aber insgesamt wirkt der Text für westliche Ohren überladen, und er ist angereichert mit einer solchen Flut von Metaphern und Assoziationen, dass man ihm kaum noch folgen mag. Die Kaffee-Metapher, so einfach und eingängig sie sein mag, wird zudem in einem Maße zu Tode geritten, dass es die Grenze zur Peinlichkeit streift.
Unfreiwillig offenbart die Inszenierung die Schwierigkeiten, fremdartige außereuropäische Theaterkultur auf westlichen Bühnen zu vermitteln. Dem deutschen Theaterzuschauer fehlt bei der arabischen Melange aus Poesie und Politik die Orientierung. Nur ein einziges Mal wird eine konkrete Geschichte erzählt: die Geschichte des Flüchtlings Kamal, der von der Rückkehr in seine Heimatstadt Haifa träumt, aber an der Küste von feindlichen Soldaten getötet und an die Planken seines Bootes genagelt wird. Es ist eine Szene, die auch in der schauspielerischen Darstellung nahe geht und an Vorgänge im 21. Jahrhundert erinnert - auf dem Mittelmeer, im sogenannten Islamischen Staat oder im Gaza-Streifen. Letztlich ist das die Qualität des mehr als dreißig Jahre alten, in Mönchengladbach kaum aktualisierten Textes: seine Gültigkeit auch im Jahre 2015. Noch immer beschießen Israelis und Palästinenser einander, so unerbittlich als zuvor. Nichts hat sich zum Besseren gewandelt. „Wo ist Palästina?“, fragt Minetti zum Schluss. „Das hat der Frieden geschluckt.“
Wenn es mal der Frieden wäre. Bruno Winzen geht im Schlussbild über die Bühne. Fünf Schritte vor, vier zurück. Immer wieder. Ob er irgendwann ans Ziel kommt?