Schaumstoffwürfelschlacht
Von der Tribüne des (dank des Engagements einiger kulturfördernder Superhelden gerade vor dem Ruin geretteten) Mülheimer Ringlokschuppens blicken wir ins „Superhero Training Camp“. Flo Pauwels (9) sitzt auf dem Tor zur Superhelden-Akademie und sinniert, was er nach erfolgreichem Abschluss seines Studiums unternehmen wird. Zum Mond fliegen zum Beispiel. Der Mond wird umkreist von vielen weiteren Monden, die alle eine Spezialaufgabe haben. Auf einem Mond gibt es auch Pizza, von der man allerdings nicht zu viel essen sollte: „Denn dann wirst du dick und fällst vom Mond herunter.“ Auf deinem Grab steht dann: „Du musst nicht so viel essen, sonst wirst du dick und fett.“ Wenn du dagegen viel Gemüse isst, kannst du eines Tages zur Sonne fliegen. Vorausgesetzt, du bist immer nett: „Du musst dich für jeden Furz entschuldigen!“
Wir ahnen jetzt, wie es zu Hause in Belgien bei der Familie Pauwels zugeht. Auf der Akademie der Superhelden jedenfalls werden die Kinder noch zu richtig braven Mitgliedern der menschlichen Gemeinschaft erzogen. Subversiv ist da nix. Der geistig nicht ausgelastete Zuschauer überlegt, dass Angie aus Germanien und François aus Gallien die Akademie wahrscheinlich fünf Jahre lang besucht haben, denn dann ist man zuständig für „Weltprobleme“ wie gefährliche Krankheiten und Weltkriege. Also für Putin und Ebola.
Die phantasievolle Geschichte über Monde und die Berufsaussichten der Akademie-Absolventen gehört zu den hübschesten, weil auch skurrilsten Momenten der jüngsten Arbeit des belgischen Künstlerkollektivs CAMPO. Dreimal bereits hat CAMPO mit einer Gruppe von Kindern gearbeitet; die zum Berliner Theatertreffen 2012 eingeladene Koproduktion mit Gob Squad Before Your Very Eyes mit etwas älteren Kindern gehörte zu den bezauberndsten Aufführungen, die der Unterzeichner je im Theater sah. Damals blickten sieben Kinder auf die verschiedensten Phasen ihres zurückliegenden und - vor allem - bevorstehenden Lebens, und sie hielten uns mit ungeheurer Phantasie und viel Humor einen Spiegel vor, der uns lachen, weinen und erröten ließ. Diesmal sind es dreizehn junge Helden im Alter zwischen 9 und 12 Jahren, die in ihrem Trainings-Camp so eine Art von Peer-Gynt-Träumen im fortgeschrittenen Grundschulalter entwickeln. Eine solche Interpretation legt jedenfalls die zum Auftakt der Performance eingespielte Peer Gynt Suite nahe. Vielleicht ist Edvard Griegs Stück Die Halle des Bergkönigs aber auch nur ein Hinweis auf die 13 kleinen Trolle, die in den nächsten sechzig Minuten vor uns herumtoben.
Das Interpretieren sollte man besser lassen, denn so viel Tiefgang hat der Abend nicht. Im Gegenteil: Er hat für eine Arbeit von CAMPO ungewöhnlich viel Leerlauf. Unendlich langsam bauen die Kinder zunächst eine Bühnenlandschaft aus lauter Schaumstoffquadern sowie ihr Live Orchester auf. Man soll sie ja nicht hetzen, die Kleinen, die den Abend weitgehend eigenständig gestaltet haben … - Musizieren können sie bemerkenswert gut; insbesondere Lisa Gythiel an der akustischen und an der E-Gitarre fällt durch ziemlich professionelle Handhabung ihres Arbeitsgeräts auf. Tolle Musik kann eben nicht nur Edvard Grieg. Sehr süß auch die neunjährige Mona De Broe, die sich als körperlich Kleinste der Theatertruppe zur Dirigentin aufschwingt. Und so melodisch das alles auch klingt, so entlockt Sven Delbaer dem Kontrabass gegen Ende der ersten Szene auch ein paar unheimliche Töne. Dazu pustet die Nebelmaschine Schwaden auf die Bühne.
Aber es bleibt süß. Da werden ein paar Werbefilme gedreht, was vielen der Kinder nach eigener Aussage besonders viel Spaß macht. Dass die Szene auf den deutschen Zuschauer ein wenig banal wirkt, mag daran liegen, dass die Spots auf flämisch gesprochen werden und kein Mensch sie übersetzt. Anschließend wird es schon Zeit für ein Mittagsschläfchen, und dann kommt mit dem Überraschungsangriff von außerirdischen Monstern ein wenig Schwung in die Bude, als wäre es ein Mittagsschlaftraum. Witzige Piktogramme und Karikaturen flitzen über die Videowand, die Musik schwillt an und ein kleiner Zuschauer im Kindergartenalter bekommt Angst. Dass niemand die Absicht hat, eine Mauer zu bauen, lässt sich so auch nicht sagen: Die Kinder bauen Barrikaden zum Publikum und üben schon mal für den nächsten Angriff. Wie sich das gehört für so ein Abwehr-Bataillon, sind alle einheitlich gewandet und maskiert, und schon hageln die Schaumstoffwürfel ins Publikum. Und wir lassen uns verführen: Alle Mülheimer Mundwinkel gehen nach oben, und wir schießen aus vollen Rohren zurück. Es ist bescheuert, aber es macht Spaß.
Und vielleicht ist es das, was Philippe Quesnes berühmten milden Humor ausmacht. Der hat in den letzten Jahren mit den Produktionen seines Pariser Vivarium Studio ja ganz Europa gerockt, mit ebenfalls vergleichsweise sinnfreien, aber absurd poetischen Stories und ein paar Aussteiger-Typen, einem Citroën und dem in der freien Theaterszene zu Weltruhm gelangten Hund Hermès. In Mülheim sah man beispielsweise bei „Impulse 2009“ seine Mélancolie des dragons und war ebenso auf eine irritierte Art amüsiert (oder auf eine amüsante Art irritiert?) wie heute, wenn die Kinder eine Heile-Welt-Schau mit Pfannkuchen, Knarren und Mauerbau anzetteln.
Die machen sich derweil an den Wiederaufbau und errichten ein Gebäude zur Verteidigung gegen die Außerirdischen. Und gegen alle Katastrophen dieser Welt: Überbevölkerung und Epidemien, Gammastrahlen und Gehirnimplantate, Tierversuche und genetisch veränderte Nahrung. Das könnte einen kritischen Aspekt in die Aufführung einbringen. Tut es aber nicht.
Und so erfreuen wir uns denn an dem köstlichen Duft der Pfannkuchen, an der nun folgenden tollen Geschichte von Flo Pauwels und an dem rockigen musikalischen Abschluss. Auch bei dem kommt Flo nochmal groß raus, hängend in den Seilen, die ein vermutlich ziemlich Irdischer vom Schnürboden herabbaumeln lässt. Das alles hat durchaus etwas Entspanntes, in seinen besten Momenten sogar etwas Poetisches. Es ist ein hübsches Kinderspiel. Das Videobild eines angegammelten Wohnblocks hinter verdorrten Sträuchern verortet das Spiel im Prekariat, aber die jungen Akteure dürften eher dem Bildungsbürgertum entsprungen sein. Alles ganz hübsch also, aber an das genialische Before Your Very Eyes kommt die CAMPO-Produktion nicht ansatzweise heran.