Übrigens …

Verbrennungen im Schauspiel Essen

Poesie gestrichen, Stück überlebt

Verbrennungen ist eines der großartigsten Stücke, die die deutschen Theater in den letzten zehn Jahren ausgegraben haben. Das vielschichtige Stück spricht in 30 Einzel-Szenen eine solche Vielfalt an Problemfeldern an, dass eine knappe Zusammenfassung nahezu unmöglich ist. Wajdi Mouawads Drama zeigt anhand eines exemplarischen, teuflisch konstruierten Falls die Gräuel des Krieges auf, und es beschäftigt sich mit der Entstehung und der möglichen Verarbeitung von Traumata. Der in einem ungenannten Land im Nahen oder Mittleren Osten (vermutlich dem Libanon) spielende Text zeigt, dass eine Frau in einer archaischen Gesellschaft nur eine Chance hat, wenn sie nach Bildung strebt, und ist so auch ein Stück Aufklärungstheater. Es unterstreicht die Notwendigkeit der Wahrheitssuche, zeigt aber auch auf schmerzhafte Weise deren Risiken auf. Und es ist eine eindrückliche Aufforderung zur Übernahme von politischer und sozialer Verantwortung und zur Entwicklung eines politischen Bewusstseins. - Nawal Marwan, die Frau, die sich von der Analphabetin in einer rückwärts gewandten patriarchalischen Gesellschaft zu einer selbstbestimmten Persönlichkeit und unbeugsamen politischen Kämpferin entwickelt hat, ist bei diesem Kampf seelisch zugrunde gegangen. Ihre Traumatisierung hat sie - wenn auch in anderer Form - an ihre Kinder vererbt. Doch die Kinder, die sich - Tochter Jeanne mehr als Sohn Simon - nach Nawals Tod ebenfalls zur Wahrheitssuche aufmachen, werden am Ende von ihrem Trauma befreit. Vielleicht. So ganz sicher ist das nicht.

Die Zwillinge Jeanne und Simon, im Gefängnis geboren und der Mutter weggenommen, waren einem Hirten übergeben worden, der sie ertränken sollte. Doch der warf sie nicht auftragsgemäß in den Fluss, sondern gab sie in Pflege. Nach dem Tod der Mutter erhält Jeanne den testamentarischen Auftrag, den totgeglaubten Vater zu finden, während Simon seinen Bruder suchen soll. Am Ende wird sich erweisen, dass beide nach dem gleichen Mann gefahndet haben. So ist Verbrennungen auch eine moderne Version der Ödipus-Sage. Die traumatisierte, fünf Jahre vor ihrem Tode verstummte Nawal war im Gefangenenlager von einem Mann vergewaltigt worden, der ihr Sohn war. Was der Sohn nicht wusste; am Schauspiel Essen bekommen wir den Eindruck, dass die Mutter es möglicherweise ahnte.

Die Brutalität verblendeter, hasserfüllter Islamisten im sogenannten Islamischen Staat steht den geschilderten Verbrechen in Wajdi Mouawads Text in nichts nach; am Tag der Essener Premiere war die Innenstadt von Bremen voll von waffenstarrenden Polizisten, da ein terroristischer Anschlag des Dschihad befürchtet wurde: Es sage keiner, das Stück habe nicht politische Aktualität. Regisseur Martin Schulze will den Text in seiner Inszenierung am Schauspiel Essen noch näher an unsere Lebensrealität holen und seine Allgemeingültigkeit zeigen, indem er ihn soweit wie möglich aus dem fiktiven arabischen Raum herausholt. Alle Schauspieler treten einheitlich in grauen Hosen und weißen Blusen oder Hemden auf und nehmen an einem langen Tisch Platz, wie er in einem Konferenzraum stehen könnte. Texte aus dem späteren Gerichtsprozess gegen Abou Tarek eröffnen die Inszenierung; in großen Portraitbildern werden auf der Rückwand der Spielfläche die Gesichter der Akteure vorgestellt. Karg, hochkonzentriert und eindringlich wirkt die Aufführung in diesen ersten Minuten.

Aber wir erkennen auch sofort die Laborsituation, in der Schulze das Drama ansiedelt. Und die tut der Wirkung nicht des Dramas nicht immer gut: Manch berührende oder dramatische Szene aus der archaischen Welt, in der Nawal aufgewachsen ist, funktioniert in Straßenanzügen einfach schlecht. Die sprachlichen Besonderheiten von Mouawads Text werden leider ebenfalls unterdrückt. „Lerne eine Sprache, und du gewinnst ein Volk“, heißt es einmal: Die Sprache Mouawads hat das Ensemble nicht gelernt. Die Inszenierung lauscht nicht auf den dunklen, lyrischen Ton des Stücks; sie unterdrückt seine gelegentliche orientalische Poesie. Mouawad hat sein Stück komponiert wie ein Musikstück, in perfekter Rhythmik zusammengesetzt aus realistischer Alltagssprache, hochpoetischen Formulierungen und wie in Stein gemeißelten Aphorismen. Schulze hat all das über Bord geworfen und sich ausschließlich auf die Umgangssprache beschränkt. Natürlich hat er so die Figuren gegenwärtiger gemacht; sie streiten, sie schimpfen, sie schreien sich an wie in einem ordentlichen Wohnküchendrama. Aber letztendlich geht ihnen das Exemplarische, das sie auch bei Mouawad haben, eher verloren. Das Personal wirkt allenthalben reichlich aufgeregt, wenn es miteinander diskutiert oder die wenigen Monologe spricht - das passt nicht zu dem Ton einer antiken Tragödie, den Moawad häufig anschlägt. Sowohl die Charaktere als auch das Stück verlieren so an Fallhöhe und an Intensität.

Letztendlich setzt sich das großartige Stück mit seinem erbarmungslosen, immer wieder die schlimmstmögliche Wendung nehmenden Plot aber durch. Wobei die allzu sehr zum realistischen Sprachduktus angehaltenen Schauspieler hierzu durchaus beitragen: Marieke Kregel als Jeanne lässt insbesondere in ihren stummen Szenen auf faszinierende Weise spüren, wie es in ihr rumort. Die Rolle der Nawal wird auf zwei Schauspielerinnen aufgeteilt: Stephanie Schönfeld spielt die junge, emotionale Nawal in all ihrer Verzweiflung; Ines Krug als ältere Nawal berichtet das Geschehen aus sachlicher Distanz, verhärtet, doch mit unendlicher Traurigkeit in der Stimme. Insbesondere wenn beide Schauspielerinnen den gleichen Text unmittelbar hintereinander in ihrer unterschiedlichen Diktion sprechen, bekommen wir eine Ahnung von den Traumata, die Nawals Erlebnisse auslösten. Axel Holst als Fremdenführer berichtet von seinen Erfahrungen im Ton eines Museumsführers im Stasi-Knast Hohenschönhausen, der dort zu DDR-Zeiten selbst gesessen hat: ganz sachlich, bis dass die Wut dann doch aus ihm herausbricht.    

Wer das Stück nicht kennt, wer die Inszenierungen von den Vereinigten Bühnen Krefeld Mönchengladbach (siehe hier) oder dem Schauspiel Dortmund (siehe hier) in der Spielzeit 2013/14 nicht gesehen hat, wird beeindruckt und erschüttert sein. Wenn Schulze aus einem zeitgenössischen Text die „Ziele einer modernen Folterstrategie“ zitieren lässt, wenn er über die erschreckende Verflechtung von Krieg und Medienberichterstattung sprechen lässt, wenn er blitzlichtartig einen Bezug zu „American Sniper“ herstellt oder wenn Bilder aus der Kriegsrealität im arabischen Raum über die Videowand flimmern, gelingt ihm der Beweis der Allgemeingültigkeit des Stücks überzeugend. Auf die sprachliche Vereinfachung und die laborhafte Spielsituation hätte er verzichten können. Denn letztlich geht Schulzes Konzept nicht auf: Es verringert die Durchschlagskraft des Stückes, weil er nicht erkennt, dass allein das klangliche Nachspüren der verschiedenen Sprachebenen des Original-Texts für die Erkenntnis beim mitdenkenden Zuschauer ausgereicht hätte.