Virtuose Riot Girls
Stück des Jahres 2014 ist es geworden. Dabei ist das Stück noch gar nicht abgeschlossen: Es wird munter drauf los improvisiert in Sebastian Nüblings Inszenierung von Es sagt mir nichts, das sogenannte Draußen, das zum Weltfrauentag im Theater Gütersloh gastierte. Manchmal fragt auch eine der Darstellerinnen: „Fangen wir noch mal neu an?“ - Allgemeines Nicken, und dann geht sie weiter, die furiose Performance der vier Riot Girls auf der Bühne. Irgendwann haben sie sich bei der Frau Berg in der Küche getroffen, und die stets ein wenig überkandidelt ironische… na ja, nennen wir sie politisch korrekt, aber langweilig: Dramatikerin hat sie gefragt, was denn so junge Frauen in ihren 20ern heute bewegt. Man mag sich das vorstellen: Da saßen sie in der Küche, vier hübsche, intelligente junge Frauen und die auf eigenwillige Weise aparte Fünfzigerin Sibylle Berg, und haben sich köstlich amüsiert. Der Kakao, durch den sie sich selbst und den Lebensstil ihrer ganzen Generation gezogen haben, schäumte vermutlich mächtig über, so dass man nicht wissen möchte, wie Frau Bergs Küche anschließend aussah. Und dann haben sie gemeinsam das Stück entwickelt.
Im Theater Gütersloh treffen wir die hübschen jungen Damen erst nach der Aufführung in der Skylobby wieder. Zuvor stapften da widerwillig und schlecht gelaunt vier ziemlich hässliche Sumpfziegen auf die Bühne, mit Hornbrillen von erlesener Scheußlichkeit, dicken Strumpfhosen und grotesken Oma-Röcken sowie uralten, viel zu weiten Sweatern und Sportjacken überm allzu pfundigen Leib. Wenn Blicke töten könnten, wären wir in den ersten Reihen alle tot. Dereinst waren sie ja schließlich so eine Art Street Gang, haben Jungs verkloppt und so. Doch diese Zeiten sind vorbei; mittlerweile sind sie Yoga-Freundinnen, widmen sich dem Urban Knitting und sprechen erstmal - chorisch wie fast immer während der 80minütigen Spieldauer - über die Vor- und Nachteile von Liebeskummer: „Man nimmt so schön ab dabei“. Sie hetzen über „heteronormative Besitzansprüche“ in der Beziehung und über den Triumph der Technik über den Geschlechtstrieb. Schließlich drucken sich junge Männer mittlerweile Spionage-Drohnen am 3D-Printer aus und lassen sie dann auf der Suche nach potentiellen Geschlechtspartnern über die Trottoirs kreisen. Solche Trottel will frau nicht; die liest lieber ein spannendes Buch, „Die Wander-Vagina“ zum Beispiel. (Womit auch Feuchtgebiete oder 50 Shades of Grey schon mal ihr Fett weghätten.)
Suna Gürler kratzt sich am Rücken wie Proll aus Neukölln; man singt schief und rülpst und kommt von Hölzken auf Stöcksken beim mal leicht vorwurfsvollen, oft aggressiven, immer ironischen Sinnieren über das, was sich junge Menschen unter ihrem Leben vorstellen. „Ein wildes Schelmenstück über das Lebensgefühl in der Zentrifuge der Wohlstandsgesellschaft“ hat Theater heute Frau Bergs Textfläche einmal genannt. Irgendwie hinterfragt das Stück natürlich die Klischees, nach denen wir uns verhalten, die übermäßige Konsumorientierung ebenso wie die übermäßige political correctness. Doch das Wort „hinterfragen“ sollte man bei Sibylle Berg besser nicht in den Mund nehmen: Sie spießt einfach alles satirisch auf. „Es sagt mir nichts …“ ist eine Textfläche wie bei Elfriede Jelinek, und tatsächlich geht Berg genau so assoziativ vor wie die Jelinek, immer auf der Suche nach der nächsten Pointe. Aber die ehemalige „Brigitte“- und heutige „SPIEGEL online“-Kolumnistin ist weniger politisch und weniger verbissen als Jelinek, dafür lustiger. Da klingeln die Euro-Stücke nur so im Phrasen-Schwein; sprunghaft werden hanebüchene Gedankenkonstruktionen entwickelt. Mit unübertrefflicher sprachlicher Virtuosität wechselt sie zwischen bewusst gesetzten Plattitüden und sarkastischen Formulierungen; manche Pointe hat nur eine geringe Fallhöhe (auch das kennen wir von Jelinek), andere treffen voll auf die Zwölf.
Das, gegen das die vier Protagonistinnen stänkern und wettern, gibt es in all seiner Zweideutigkeit wirklich: Casting Shows gucken die Mädels gern - aber natürlich kann eine intelligente Frau dabei nicht einfach sinnfrei ausspannen: „Ich sehe Casting Shows irgendwie in einem hegemonialen Kontext“, sagt eine der vier, und das kommt weniger aggressiv als vielmehr entschuldigend rüber und macht lachen. Wenn man es recht besieht, ist aber die seitenlange, bierernste wissenschaftliche Abhandlung von Margreth Lünenborg und Claudia Töpper, die für die Bundeszentrale für politische Bildung „Gezielte Grenzverletzungen - Castingshows und Werteempfinden“ untersucht und unter dem Gesichtspunkt der „hegemonialen Ordnung“ betrachtet haben, kaum weniger zum Lachen. Sibylle Bergs Humor ist vielleicht eine wirkungsvollere, zielgruppenadäquatere Form der Kritik; auf jeden Fall ist ihr Stück eine höchst intelligente Form von Kabarett und Comedy.
Schrill und dissonant, dann wieder mit triefend ironischer Harmonie entwickeln Cynthia Micas (eine grandiose Körpertheater-Spielerin mit zwischenzeitlichen opernhaften Kürzest-Gesangseinlagen), Nora Abdel-Maksoud (mit einer Stimme wie einer Säge, die jeden Verehrer in die Flucht schlagen könnte), Suna Günler (mit gemeinen provokanten Blicken und Gesten) und Rahel Jankowski eine Wucht und eine Virtuosität, die ihresgleichen sucht. Nübling hat ein großartiges Wortkonzert mit ihnen entwickelt, und Tabea Martin hat den Bewegungsablauf dazu einstudiert: Choreografien, die ebenfalls immer leicht dissonant wirken, Bewegungen, die immer leicht asynchron, und doch virtuos aufeinander abgestimmt sind. Noch beim Schlussapplaus laufen die vier Damen gegen die Metallwand, die das einzige Element des Bühnenbildes darstellt. Mit überschüssiger Energie, mit dem unaufhaltsamen Drang zum Ausbrechen aus einer Welt, über deren Irrsinn sie lästern. Diese vier Mädels pfeifen auf uns, wir aber möchten sie wiedersehn...