Übrigens …

Herzstück / Mauser, Philoktet im Köln

Nichts zu lachen, viel zu denken

„Damen und Herren, aus der heutigen Zeit / Führt unser Spiel in die Vergangenheit / Als noch der Mensch des Menschen Todfeind war / … / Was wir hier zeigen, hat keine Moral / Fürs Leben können Sie bei uns nichts lernen. / Wer passen will, der kann sich jetzt entfernen.“  Spricht Niklas Kohrt am Schauspiel Köln, öffnet die Hintertür der „Grotte“ zur Autostraße und gibt dem Publikum die Möglichkeit zur Flucht in letzter Sekunde. Spricht Dimitri Tellis im Theater Tiefrot in Köln, öffnet die Tür zur Treppe hinaus auf die Straße und gibt dem Publikum die Möglichkeit zur Flucht in letzter Sekunde.  Aber keiner verlässt den Saal, und Tellis guckt streng wie gestern Kohrt: „Sie sind gewarnt. Sie haben nichts zu lachen / Bei dem, was wir jetzt miteinander machen.“

Es sind die Anfangsverse von Heiner Müllers Philoktet, die Kohrt und Tellis sprechen. Zwei Müller-Aufführungen hatten an zwei aufeinanderfolgenden Tagen an zwei Kölner Theatern Premiere: Herzstück / Mauser am Schauspiel Köln und Philoktet am Theater Tiefrot. Die 25jährige Andrea Imler und der 79jährige Hansgünther Heyme haben sich mit großem Ernst der jeweiligen Vorlage angenommen und dunkel leuchtende, ganz auf Müllers Sprachmacht vertrauende Inszenierungen geschaffen. Erstaunlich, wie sie sich ähneln, die Arbeiten der jungen Regie-Elevin am renommierten Stadttheater und des berühmten Regie-Veteranen an der kleinen Off-Bühne. Zu lachen bekommen wir in der Tat nur wenig; schwarzhumorige Zeitgenossen finden in Imlers Inszenierung ein paar Szenen mit grimmigem Witz. Wer sich vor hochanspruchsvollen Gedankenkonstruktionen fürchtet, sollte die angebotene Fluchtmöglichkeit nutzen. Mauser und Philoktet gehören zusammen mit Der Horatier zu einer von Müller als „Versuchsreihe“ deklarierten Werkgruppe, die ein zu ausweglosen Konflikten zugespitztes Verhältnis von Individualität und Politik beleuchtet und dabei kritisch auf Bertolt Brechts Lehrstücke Bezug nimmt. Stark vereinfacht lautet Müllers Lehrstück-Kritik: Lieber Kollege Brecht, so einfach ist die Sache nicht: Es gibt kein richtiges Leben im falschen. In zahlreichen Entscheidungssituationen ist jeder Weg, den man einschlägt, moralisch verwerflich.

Das wussten schon die alten Griechen. Und so äußert Heiner Müller seine Kritik in den o. a. Stücken einerseits als Brecht-Replik mit den Mitteln von dessen Lehrstücken, andererseits in schön gedrechselten, vor allem im Falle von Philoktet griechisch-antikisierenden klassischen Versen. „Der Philoktet-Vers, das ist das Höchstmaß an innerer Spannung, das man einem Vers zumuten kann, ohne ihn der Qualität erlesener Reinheit zu berauben“, sagt Peter Hacks und sinniert darüber, inwieweit Müllers Philoktet dem Ideal klassischer Literatur entspricht. Diese spiegele „die tatsächliche Barbarei im Stoff und ihre mögliche Schönheit in der Form“ wider. In diesem Sinne haben sowohl Heyme als auch Imler inszeniert.  

 

Unter Geiern: Philoktet texttreu und verzweifelt im Theater Tiefrot

 

Philoktet, eine radikal zugespitzte Nachdichtung von Sophokles‘ Philoktetes aus dem Jahre 409 v. Chr., beschäftigt sich in den Entstehungsjahren 1958 - 1964 auf der Folie der Helden von Troja mit der Logik der staatlichen Gewalt. Das Stück thematisiert in den Jahren des Mauerbaus den Konflikt zwischen Freiheit und staatlichem Handlungszwang. Es blickt auf die Gefahren von Ideologie und die Versuchungen der Macht: Beide korrumpieren die Moral. Das war in der DDR eine hochbrisante politische Analyse, ist aber auch fünfzig Jahre später von großer Aktualität. Philoktet wurde zu Beginn des Trojanischen Krieges wegen seiner stinkenden Kriegsverletzung auf der Insel Lemnos ausgesetzt, die vor allem von Geiern, einem der Symbole des Kriegsgottes Ares und in der griechischen Mythologie als Abkömmling des Greifen auch Wächter und Rächer, bevölkert ist. Er ist voller Groll und Hass gegen seine ehemaligen Kriegsgefährten, besitzt aber den Bogen des Herakles, ohne den die Griechen gemäß einer alten Prophezeiung Troja nicht erobern können. Ihn zur freiwilligen Rückkehr ins griechische Heer zu überreden, gelingt nicht; dem unsichereren Kantonisten soll seine Wunderwaffe entwendet werden. Als er sich an Odysseus rächen will, wird er getötet. Und zwar von Neoptolemos, eigentlich dem Moralisten in dieser Story, der aber im Rahmen seines Auftrags mehr und mehr an Moral verliert und Philoktet ziemlich übers Ohr zu hauen versucht. So verweigert das eigentliche Opfer dem Vaterland die Hilfe und wird beinahe zum Täter, der Moralist mordet, und der Polit-Stratege ist ohnehin ne fiese Möpp. Bei Sophokles war Philoktetes noch mit sanfter Göttergewalt freiwillig nach Griechenland zurückgeführt worden.

Odysseus, in Müllers Text ein so leidenschafts- wie skrupelloser Polit-Funktionär und hinterhältiger Ränkeschmied, erscheint bei André Lehnert in Heymes werktreuer Inszenierung als arroganter Zyniker, weitgehend emotionsloser Realpolitiker und glänzender Dialektiker. Lehnerts Interpretation der Müllerschen Verse überzeugt. Dimitri Tellis als Philoktet erhält den größten Applaus des Publikums, doch erscheint dem Rezensenten seine (vom Plot her gut motivierte) Emotionalität und seine verzweifelte, bisweilen weinerliche Diktion und Gestik der Wirkung der pathetischen Müllerschen Sprache abträglich. Henning Jung als junger Neoptolemos fällt gegenüber der Dominanz von Tellis und der Sprachmacht von Lehnert ein wenig ab. Heyme arbeitet mit minimalen Requisiten auf einer fast nackten Bühne; ab und an flimmern im Hintergrund Kampfflugzeuge oder digitale Zahlenreihen, die die Millionen Opfer der Kriege symbolisieren mögen und die fortdauernde Aktualität des Stückes betonen.

 

Herzlos: Andrea Imler schließt mit sieben Müller-Texten an ihre de Sade Inszenierung an

 

Während Hansgünther Heyme am Theater Tiefrot seinen Philoktet völlig texttreu inszeniert, collagiert Andrea Imler am Schauspiel Köln in ebenfalls nur 70 Minuten gleich sieben Müller-Texte zu einer mindestens ebenso beeindruckenden Aufführung. Dem herzlosen Vorgehen der Revolution, das Müllers Mauser so gnadenlos aufspießt, dass das Stück in der DDR verboten wurde, hat Imler Müllers Herzstüc“ vorangestellt. In diesem elfzeiligen Mini-Drama möchte Person Eins der Person Zwei ihr Herz zu Füßen legen, doch das erweist sich als Ziegelstein. Schlusswort: „Aber es schlägt nur für Sie.“- Das hat durchaus Witz, aber so wie es Niklas Kohrt und die ganz in Trauerkleidung gewandete Lou Strenger spielen, wirkt es streng und düster. Es ist der Prolog zu einem noch strengeren und düstereren Abend als dem Philoktet. Mauser ist Müllers Replik auf Brechts Maßnahme, Brechts stalinistischstem Stück, in dem er allen Ernstes argumentiert, der Weg der Revolution müsse mit Leichen gepflastert sein: Terror für den Endsieg!

 

Müller nimmt den Plot der Maßnahme auf und steigert die Philosophie des Terrors in grausige Höhen: „Das tägliche Brot der Revolution ist der Tod ihrer Feinde.“ Zum Feind wird jeder, der Herz hat. „Revolutionsarbeiter“ B wird von A getötet, weil er bei drei aus Unwissenheit gegen die Regeln der Revolution verstoßenden Bauern Milde walten lässt. A wird Nachfolger von B und entwickelt sich, um das permanente Blutvergießen ertragen zu können, zur mechanistischen Tötungsmaschine. Was auch nicht recht ist, denn damit fehlt das politische Bewusstsein, und auch A wird zum Tode verurteilt. Liebe, Mitleid und Gefühl sind bei der Partei nicht gefragt. Das Gesetz der Revolution verlangt Ziegelsteine statt Herzen. Seine Exekutoren sollen vollständig ent-individualisiert sein, so wie der Chor, der die Stimme der Revolution repräsentiert: Er ist in Imlers Inszenierung nicht physisch präsent, sondern wird ausschließlich durch die blecherne Lautsprecherstimme von Annika Schilling verkörpert.

Dereinst hat es vielleicht einmal so etwas wie Individuen gegeben in der revolutionären Administration. Denn beim Einlass in den engen, intensive Theatererlebnisse garantierenden Raum der Grotte laufen wir an einem kleinen Schreibtisch vorbei, auf dem eine mechanische Schreibmaschine und eine halbgefüllte Flasche Whiskey stehen. So banal, so bürokratisch ist wohl das Gesicht der Macht, die sich jetzt als anonyme Bedrohung hinter scheppernden Lautsprechern verbirgt. Doch inzwischen ist nur noch mechanistisches Funktionieren gefragt: „Der auf sich selber besteht als sein Eigentum ist ein Feind der Revolution wie andere Feinde“, sagt der Chor. Erbarmungslos ist die Partei: „Die Unwissenheit kann töten so wie der Stahl töten kann und das Fieber.“ Und: „Jeder Dritte vielleicht ist unschuldig, das müssen wir in Kauf nehmen.“ In Zeitlupe bewegt sich Niklas Kohrt, immer auf der Hut - doch der unerbittlichen Maschine des Revolutionsgerichts entgeht er nicht. „Du bist der Fehler“, urteilt das Gericht. - „Ich bin ein Mensch.“ - „Was ist das?“ Das Ziel der Revolution ist das Abtöten jedes Individualismus. „Es gibt keinen Menschen, solange die Revolution nicht gesiegt hat.“ Wer denkt bei diesen Worten, bei diesen Vorgängen nicht an die Tagesschau-Berichte vom „Islamischen Staat“? Auch der massakriert seine eigenen Kämpfer wegen geringfügigster Verstöße gegen die Ideologie des Terrors.

Großartig arbeiten Imler und die beiden Schauspieler Müllers Geschichts- und Gesellschaftspessimismus heraus. Selbst die eher clowneske Szene aus Germania Tod in Berlin mit dem Müller von Potsdam, der sich auftragsgemäß gegen den König von Preußen auflehnt, wird zwar anekdotisch und kabarettistisch-ironisch erzählt, endet aber auf dem Schafott, nachdem der Müller den König von Preußen erschießt. Die Inszenierung besticht durch eine eiskalte Präzision, die Müllers schwierige, aber klangvolle rhythmische Sprache und seinen ebenso präzisen und kalten analytischen Verstand exzellent zur Geltung kommen lässt. Anders als Heyme am Theater Tiefrot arbeitet Imler immer wieder mit Musik, doch Kai Krösches elektronischer Soundtrack verstärkt die Kälte der Inszenierung eher als dass er sie abmildert.

Andrea Imler schließt in ihrer zweiten Inszenierung am Schauspiel Köln an ihre Inszenierung von de Sades Philosophie im Boudoir an, die ebenfalls einen sezierenden Blick auf moralische Grenzverletzungen warf. Hier wächst ein hochintellektuelles Regie-Talent heran. Die so kluge wie kreative Collage verschiedener Müller-Texte und das herausragende Spiel von Niklas Kohrt und Lou Strenger heben die Inszenierung noch ein Stück über die ebenfalls sehr gelungene Arbeit von Heyme am benachbarten Off-Theater hervor. Selten aber hatte man es zuletzt so leicht, sich einen umfassenden Überblick über eine spannende Schaffensperiode des vielleicht wichtigsten deutschsprachigen Dramatikers der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu verschaffen wie derzeit in Köln: Beide Inszenierungen sind für Müller-Exegeten ein Muss.

Imlers Inszenierung endet so, wie sie begann: mit einer Herz-Metapher. Diesmal wird sie einem anderen Revolutionsstück Heiner Müllers entnommen, dem 1980 uraufgeführten Auftrag: „Gestern habe ich angefangen, dich zu töten, mein Herz“, sagt Niklas Kohrt. „Jetzt liebe ich deinen Leichnam. Wenn ich tot bin, wird mein Staub nach dir schreien.“ So düster das ist, gibt dieses Ende vielleicht auch ein Stück Hoffnung. Die Liebe wird die Revolution überleben. Ob sie allerdings noch auf lebendige Menschen trifft, erscheint nicht sicher.