Bei Hamlet müllert's
Zum Spielzeitauftakt hat Regisseur Pedro Martins Beja am Theater Osnabrück Heiner Müllers Leben Gundlings inszeniert. Die Inszenierung sei eine künstlerische Verneigung vor dem Werk Heiner Müllers, schreibt die Presse. Der vor fast 20 Jahren verstorbene Müller sei für ihn einer der wichtigsten zeitgenössischen Dramatiker, weil er heute noch gültige Analysen für den Zustand unserer Welt liefere, sagt Beja. So ist es nicht verwunderlich, dass der Regisseur für seine Inszenierung von Shakespeares Hamlet am Theater Oberhausen Müllers wuchtige, düstere Übersetzung benutzt. Der Dramatiker hat den Hamlet im Jahre 1990 am Deutschen Theater Berlin einmal selbst inszeniert. Einer seiner vorherrschenden Gedanken sei dabei gewesen, dass die erste echte Handlung, die Hamlet nach einem zögerlichen Hin und Her um die Ausübung von Rache begeht, „eigentlich was Blindes und was Unkalkuliertes“ sei, sagte Müller im Gespräch mit Alexander Kluge: „Es ist kein Plan mehr, es ist nur noch blinde Praxis.“ Et voilà: Planlosigkeit und blinde Praxis zeichnen auch den Hamlet von Eike Weinreich am Theater Oberhausen aus.
Der ist angesichts der Intrigen, Verwirrungen und Mordgeschichten um seinen Vater und den verbrecherischen Onkel Claudius weder grüblerisch noch melancholisch, wie wir das aus traditionellen Hamlet-Interpretationen kennen, sondern einfach rettungslos überfordert. Der Tod seines Vaters und die Rolle des Rächers, in die er plötzlich gedrängt wird, kommen für ihn viel zu früh: Seine Jugend wird auf diese Weise gewaltsam beendet, und der noch pubertierende Hamlet reagiert konfus. Ziellos schlurft Weinreich herum, schlackert mit dem schlaffen Körper und haspelt mit norddeutsch-ruhrpöttlerischem Akzent durch den Text. Auch Laura Angelina Palacios‘ Ophelia ist noch ein Girlie, das zwar Hamlets Liebesbriefe hübsch mit Hall unterlegt zum Besten gibt, ansonsten aber frühpubertär auf Papa Polonius‘ Schultern herumtobt. Verrückt spielt Hamlet kaum - er ist halt nur ein wenig desorientiert, und so wird auch Ophelia nicht an Hamlets scheinbar verschmähter Liebe irre, sondern erst, als sie die Leiche ihres Vaters entdeckt. Auch Polonius ist bei Henry Meyer keineswegs der fiese Strippenzieher, den wir kennen, sondern der Oberhektiker am Hofe. Blind und übereifrig, ohne eine Sekunde des Nachdenkens erfüllt er die tatsächlichen oder vermeintlichen Wünsche des Königs. Mit einem solchen Direktionsassistenten ist jede Führungskraft verloren.
Der Zuschauer allerdings leider auch, denn tatsächlich ist die Schauspielerführung die Schwachstelle in Martin Bejas Inszenierung. Der aufgeregte, zappelige Polonius ist manchmal akustisch und oft von der Motivation seines Spiels her schwer zu verstehen; Elisabeth Kopp als sexy Gertrud kann sich akustisch überhaupt nicht durchsetzen, und auch bei Weinreich hat man den Eindruck, er spiele immer noch seinen grandiosen „Tschick“ aus Karsten Dahlems Jugend-Inszenierung am gleichen Haus. Den deutlich schwierigeren Hamlet-Text verschlabbert er oft; eine wirkungsvolle Setzung von Pausen oder Akzenten wurde scheinbar nicht geprobt. Die - gewollte - Verkleinerung der Figur im Vergleich zur gewohnten Rezeption gerät so zur Hypothek für einen Abend, der durchaus spannende Regie-Ideen zeigt.
Diese Ideen fußen oftmals ebenfalls auf Heiner Müller. Es sind seltsamerweise die Fremdtexte, die die Faszination dieses Abends ausmachen - zunächst einmal sprachlich, bei näherem Hinsehen aber auch interpretatorisch. Denn in dem neunköpfigen Ensemble findet sich doch ein grandioser Schauspieler. Jürgen Sarkiss gibt laut Besetzungszettel den Geist von Hamlets Vater und den Totengräber. De facto ist er aber eher der Geist von Heiner Müller und der Tod selbst, besser: eine Art Conférencier des Todes. Maskenhaft geschminkt, führt er mit wirkmächtig und präzise gesprochenen Texten durch die Inszenierung - Texten, die die Inszenierungsidee erläutern. Martins Beja betrachtet Hamlet als Endzeit-Drama. Simone Kranz, die Dramaturgin der Aufführung, erinnert daran, dass zur Entstehungszeit des Stückes die englische Gesellschaft in der Furcht vor dem erwarteten baldigen Ableben der kinder- und thronfolgerlosen Königin Elisabeth I. lebte und diese Situation als „apokalyptischen Moment“ empfand. Und so beginnt Sarkiss seine immer wieder eingestreuten Monologe mit dem Text des Horatio über den Vorabend des Falls von Rom, kurz vor dem Tode Caesars, dem Ereignis, mit dem das Römische Reich seine Stabilität zu verlieren begann. Es ist Original-Shakespeare, aber historische Gleichnisse für die Beschreibung einer aktuellen Situation sind auch ein zentraler Aspekt im Werk Heiner Müllers, mit dessen Hamletmaschine die Aufführung nach drei Stunden endet. Instabilität ist über das dänische Reich hereingebrochen; die norwegische Armee von Fortinbras steht vor der Tür. Hamlet läuft als einziger Überlebender auf der magisch erleuchteten, sich unablässig drehenden Bühne herum - und Sarkiss, der Totengräber. Ein Blutsturz vom Schnürboden tötet Hamlet, und Hamlet und Ophelia sprechen den düsteren Text aus Müllers Hamletmaschine: „Ich bin Ophelia. Die der Fluss nicht behalten hat. … Die Frau mit der Überdosis AUF DEN LIPPEN SCHNEE … Gestern habe ich aufgehört mich zu töten … Ich zerstöre das Schlachtfeld das mein Heim war …“ Apokalypse pur! Den schönsten Text aber hat Sarkiss kurz vor der Pause, und er ist nicht von Müller und nicht von Shakespeare: Es ist T. S. Eliots grandioses Gedicht von den hohlen Männern, eine Beschreibung des Seelenzustands Europas nach dem Ende des Ersten Weltkrieges.
Und wenn es schon den Ersten Weltkrieg gibt, darf auch der zweite nicht fehlen. Unmittelbar nach der Pause werden wir von einer dicken fetten Germania auf einem Rollstuhl empfangen, von einem im Führerbunker in einer seiner Posen erstarrten Hitler, einem hochschwangeren Goebbels mit riesigen Brüsten und von einer Wache, die zwar Rummenigge’s sexy knees zeigt, sich aber ansonsten unter einer islamistischen Ganzkörperverschleierung verbirgt. Heiner Müllers Germania Tod in Berlin wird als derbe Farce gespielt, für sich genommen witzig und provokant, aber im Rahmen dieser Inszenierung wie ein Fremdkörper wirkend.
Beja beschreibt eine Welt im Endstadium, bevölkert von lauter mediokren, aufgeregten Gestalten, die nie und nimmer die Kraft haben werden, sie zu retten. Wer weiter denken will, der muss nicht lange suchen nach den Parallelen zwischen dem alten Rom kurz vor Caesars Tod, dem Dänemark des Claudius vor dem Einmarsch von Fortinbras, dem zerstörten Europa nach den Weltkriegen und der in rasantem Tempo an Stabilität verlierenden Jetzt-Zeit. Volker Hintermeiers Bühnenbild gehört zu den absoluten Meisterwerken seiner Art in dieser Spielzeit in NRW. Es ist die Metapher für diese Welt und zugleich das ins Gigantische vergrößerte Erkennungszeichen des Hamlet-Stoffes. Auf einer riesigen Erdkugel aus Stahlgestänge sind die Kontinente mit wüstenleeren graubraunen Lappen angedeutet. Obenauf steckt ein Schwert wie ein in Schieflage geratenes Kreuz auf einer Kirche. Und dann dreht sich das Teil, und die Erdkugel entpuppt sich von ihrer Vorderseite als riesiger Totenkopf. Eine perfekte Lichtregie gibt der stets im Halbdunkel bleibenden Installation immer neue räumliche Dimensionen.
So findet die Aufführung immer wieder tolle Bilder, die allerdings allzu oft isoliert im Raum stehen. Leider wirkt die Inszenierung, als hätte das Team mehr Zeit benötigt, um sie zur Reife zu bringen. Dann hätte sich vielleicht auch das Problem mit den Schauspielern erledigt. Die Aufführung hat großes Entwicklungspotential, wenn das Team noch eine Weile weiter daran arbeiten darf. Bislang fügen sich viele funkelnde Perlen noch nicht zu einem perfekten Schmuckstück.