Reden wir nicht über Helga
Die Herren heißen Heidegger, Stammheimer und Stockhausen. Anspielungsreiche Namen, belastete Namen auch (zumindest zwei davon). Warum sie so heißen? Aus dem gleichen Grund wahrscheinlich, aus dem das Stück Krieg heißt. Assoziationen sollen die Namen, der Stücktitel, die vielen Begriffe und Anspielungen evozieren, die in diesem Text haltlos im Raum stehen. Haltlos? Nun ja, umfallen können sie nicht, so dicht wie dieser Text gewebt ist, der nur aus Höhepunkten besteht, wie Hubert Winkels einmal schrieb. Aus Wahrheiten und Exzessen, aus Tiefsinn, der in dieser Dichte zu Flachsinn und bierseligen Parolen wird. Stammheimer - der Name erinnert eben nicht nur an Baader Meinhof, sondern auch an Stammtisch. Am Stammtisch reden die Leute über vieles. Auch über Krieg, in gebildeten Kreisen manchmal sogar über Theater. Tiefsinnig, aber nicht immer mit Tiefgang. In anderen Kreisen redet man am Stammtisch über Frauen. Aber reden wir nicht über Helga …
Heidegger, Stammheimer und Stockhausen schwärmen von der „reinen Wissenschaft“. Nun ja - Stockhausen hat ja sowas wie reine Musik geschrieben, Heidegger sagt man heute eher unreine Wissenschaft nach, und Stammheim … das hatten wir ja schon: siehe oben. „Unsere Wissenschaft ist eine reine Angriffswissenschaft“, behauptet Heidegger irgendwann in einem seiner vielen assoziativen Texte. Das Stück heißt schließlich „Krieg“. Wenn die drei ans Telefon gehen, melden sie sich unter dem Firmennamen RSSS - auch der hat nix zu sagen, erinnerte in den 80er Jahren, als der Text mit dem Mülheimer Dramatikerpreis als bestes deutschsprachiges Stück des Jahres 1988 ausgezeichnet wurde, aber an die SSSR, die Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken. Den Feind des Kapitalismus. Heißt aber nix - is genau so egal wie Stammheim. Auch wenn dauernd einer „Revolution!“ ruft. „Mündige Bürger“ sind die drei - das ist noch so ein Schlagwort aus den 80ern -, schauende mündige Bürger, lesende mündige Bürger, wohlriechende mündige Bürger, vor allem aber: trinkende mündige Bürger. Wenn sich irgendetwas als roter Faden durch den oftmals eher kakophonischen als rational verständlichen Text zieht, dann ist es das Bier. „Lieber Frau und Kind erschießen als ‘nen Tropfen Bier vergießen“, meinen Heidegger, Stammheimer und Stockhausen, und Kinga Prytula als Heidegger verteilt großzügig das Pilsner Urquell unter den Zuschauern. Was an einem kalten April-Abend unweigerlich dazu führt, dass einer nach dem anderen die Stätte des Geschehens vorübergehend verlassen muss. Aber alle kommen wieder, und keiner hat was verpasst: Ein paar Takte fehlen halt im grandiosen Wortkonzert - inhaltlich ist das wurst (oder bier...). Aber nach Hause gehen wird hier keiner.
Hatten wir es schon erwähnt? Krieg heißt das Stück, das Hans Dreher hier ausgegraben hat. „Welcher Krieg?“, fragten die Ahnungslosen zu Hause. Na ja, Danton kommt mal vor, irgendwie glaubt man Schlachtenlärm des 1. Weltkriegs herauszuhören, ein paar nationalsozialistische Parolen werden gebrüllt. Kommunistische auch - das geht wild durcheinander. Ein kniender mündiger Bürger sieht sich einem bis an die Zähne bewaffneten Soldaten gegenüber - Soldaten, das ist die andere menschliche Spezies, die den Text bevölkert. Die mündigen Bürger nicken alles ab, und ab und zu machen sie mal Revolution, und die Soldaten drohen, töten und sorgen für Ordnung. Geschichte, Korrektur, Umsturz, Korrektur des Umsturzes - das ist der Lauf der Welt. Vor allem aber ist es lange her. Die Wahrheit liegt für Heidegger, Stammheimer und Stockhausen im Stammtisch-Argument. Und „die Scheiße ist, dass das Argument wurst ist, wenn das Argument kein Gewehr ist.“
Manchmal, vor allem gegen Ende, entwickeln Heidegger, Stammheimer und Stockhausen im Suff gefährliche Allmachtsphantasien. Doch „zwischen Leber und Milz passt noch’n Pils“ - was hier stattfindet, hat nichts mit irgendeinem konkreten Krieg zu tun. Und auch nicht mit dem Krieg als Phänotypus. Krieg ist allenfalls die Metapher für den haltlosen Zustand der Welt oder die haltlosen Stammtisch-Typen. Heiner Müllers Hamletmaschine fällt einem ein: „Herr brich mir das Genick im Sturz von einer Bierbank.“ Als „Wortgemetzel“ hat man Goetzs Stück damals, bei der Uraufführung 1987 am Theater Bonn, bezeichnet. Das Stück ist ein Krieg der Worte, ein Delirium von Menschen in irgendeinem psychischen postapokalyptischen Stadium, einem Post-Wut-Stadium vielleicht: Wütend klingen viele der Texte, aber die Wütenden schießen so präzise wie ein G36 der Bundeswehr. Die Wut ist unfokussiert; echte Wut war vielleicht mal. Jetzt herrscht Rausch statt Wut, aber Rausch durch Sprache und nicht durch Bier. Wir erleben eine mitreißende rhythmische Suada, trotz kleinerer humorvoller Einlagen und dem vielen Bier nicht komödiantisch, sondern böse. Nichts bedeutet etwas, aber alles ist mit Bedeutung aufgeladen. Die Sätze, die da ragen in diesem verwüsteten Land der Sprache, haben nicht das Nichts in ihren Ästen, sondern sie bilden einen undurchdringlichen Urwald: jede einzelne Pflanze identifizierbar, aber als Ganzes dicht, unzugänglich und schwer. Gewaltig, aber für die individuelle Pflanze ohne Raum zur Entfaltung.
Wie ein „geiles Rockkonzert“ solle die Aufführung wirken, hatte Regisseur Hans Dreher im Vorfeld der Premiere gesagt. Der Plan ist aufgegangen. Atemlos folgen wir den Tiraden von Kinga Prytula, Bernhard Glose und Linus Ebner. Dem Autor und der Regie ist eine brillante Komposition gelungen. Dumpfe Lieder singen die drei Protagonisten, die in Wirbeln wiederklingen. Der Pulverdampf der Worte in diesem Krieg benebelt. Bier ist klasse, Trinken ist Kampf, Biertrinken also Klassenkampf. Sagen Heidegger, Stammheimer und Stockhausen. Was aufgeschrieben wirkt wie ein müder Kalauer, ist in Hans Drehers Inszenierung eine prägnante Beschreibung der drei Helden in ihrem Post-Wut-Stadium. Vergangenes wird angesprochen und verdrängt: Revolution. Danton, Nationalsozialismus, Kommunismus. Hitler, Helga, Hanna. Damals, 1987 in Hans Hollmanns Bonner Uraufführung, hatten die Hanna-Szenen einen triefend ironischen Schygulla-Ton, und tatsächlich hat irgendein investigativer Theaterkritiker dem Dramatiker entlockt, dass er die Frau Schygulla so wenig leiden kann wie der Schreiber dieses Textes. Relevant ist das nicht, und Dreher hat die dem Rezensenten noch so intensiv erinnerlichen Hanna-Szenen auf ein Minimum zusammengestrichen. Relevant ist vielleicht der grandiose, düstere Monolog von Heidegger über die Schwärze. Der ist wie der gesamte Text voller schwer zu ordnendem Assoziationsmaterial, aber auch voller Schlachtenlärm und so erschreckend, dass das spärlich erschiene Publikum den Atem anhält. Hubert Winkels beschreibt diesen Teil des Textes als Heavy Metal Konzert, als eine Prosa, die „wie eine Rhythmusmaschine auf Leiber trifft.“ - Jetzt, am Ende, vernichtet die Maschine die Leiber. „Die Bühne steht in Flammen“, heißt es da. Suggestiv wird dieser Katastrophen-Text gespielt. Es ist ein Spiel mit dem Spiel - das alte, auf die Spitze getriebene Spiel mit der Realität im Theater. „Der Zirkus steht in Flammen“, sang schon Konstantin Wecker, und er endete mit „Das Programm war gut“ - Aber man denkt auch an Moskau 2002, an die blutige Geiselnahme im Musical „Nordost“.
Ist Krieg politisch? Ja, vielleicht, in einem übergeordneten Sinne - das düstere Stimmungs-Szenario, die pessimistische, nein: geradezu nihilistische Suada einer keineswegs unintelligenten Stammtischbande lässt sich auch wie ein höhnischer Kommentar zur Lage der Gesellschaft und zum geistigen Zustand der Intelligenzia lesen. 1987/88 war es vielleicht ein Kommentar zu dem großen Blubb, mit dem die aufrührerische Gesinnung der 68er Generation in sich zusammenbrach. Viel geredet, wenig getan gegen die - tatsächlichen oder empfundenen - Ungerechtigkeiten und Schieflagen dieser Welt wird auch heute. Allenfalls ist aus dem Bier der saturierten Ex-Revoluzzer ein gediegener Chianti geworden. Die permanenten Biertrinker-Passagen haben im Text etwas von Shakespeare’schen Clown-Szenen - bei Dreher sind sie einfach eine Tonalität in einem großen Wortkonzert. Der Regisseur mischt chorisch antikisierende Passagen mit den auch nach dreißig Jahren noch hochmodern wirkenden artifiziell komponierten Wortkaskaden. Gerade die Trinker-Szenen geht Dreher mit überraschenden szenischen Einfällen an, die der Inszenierung ebenso wie die intelligente musikalische Begleitung ein zusätzliches Spannungsmoment geben. Der Rest ist düsteres Rufen und Raunen mit vorgeblich großer Dringlichkeit, aber auch ironischer Darstellung. Dieser „Krieg“ ist bombig. Mit Tempo, Wucht und Musikalität hat Hans Dreher im ROTTSTR5 Theater wieder einmal eine Aufführung geschaffen, die zu den absoluten Spitzenproduktionen dieser Spielzeit in NRW zählt. Hingehen!