Übrigens …

Argonauten im Köln, Schauspiel

Dröhnende Drohnen, rappender King

Ein Autor wird für diese Inszenierung nicht genannt. Regisseur Simon Solberg hat am Schauspiel Köln mit sechs Studierenden der Leipziger Hochschule für Musik und Theater „Felix Mendelssohn-Bartholdy“ die Argonauten-Sage neu erzählt und sie in Beziehung zu den Boat People aus Afrika gesetzt, die von Ceuta und Melilla aus die kurze, aber gefährliche Reise über das Mittelmeer ins verheißene Land Europa anzutreten versuchen. Herausgekommen ist ein leider ziemlich unausgegorener Angriff auf das Nervenkostüm der Zuschauer. Nehmen wir die positiven Aspekte der Inszenierung vorweg: Bestimmt lässt sich aus den vielen einfallsreichen Bildern, Lichtstimmungen und Musikeinspielungen ein mitreißendes YouTube-Video drehen. Und wenn der Rezensent seinem Credo treu bleiben will, dass eine einfallsreiche, aber misslungene Regietheater-Inszenierung allemal interessanter ist als eine langweilige Aufführung, die ihren Mangel an Inspiration mit sogenannter „Werktreue“ zu erklären versucht, dann müsste er eigentlich versöhnt und zufrieden den Heimweg angetreten haben. Hat er aber nicht.

 Es gibt zwar keinen Autor, aber ein Auto: Die „Argo“, mit der die Argonauten ihre Reise antreten, entpuppt sich als ein dunkler Volvo V 60 älteren Baujahrs. Mit dem Amtlichen Kennzeichen HH - AJ: für den bedeutendsten Seehafen des Landes und die Initialen von Argonaut Jason. Mangelnde Liebe zum Detail kann man der Truppe also nicht vorwerfen. Mit besagtem und betagtem Volvo hat die Kölner Combo einen Ausflug nach Marokko gemacht, über verschneite Bundesstraßen, staubige Feldwege und sandige oder grasbewachsene Hügel. Wer sein Auto liebt, der schiebt: Schon in der antiken Sage ist des Öfteren davon die Rede, dass man das Schiff über die Inseln trägt, und so muss auch der Volvo häufiger mal mit viel Mannes- und Frauenkraft den Hügel hinan geschoben oder gezogen werden, was der munteren Abenteurer-Truppe offenbar durchaus Spaß macht. Die Herren und Damen müssen das auch nicht an jedem Abend neu bewältigen, denn von der Marokko-Reise erfahren wir auf dem (kleineren) Video-Bildschirm links (es gibt auch noch eine große Leinwand in der Mitten). Links ist 2015, also Volvo statt Ruderboot und arme Afrika-Flüchtlinge statt rassiger Kolcher-Barbaren, rechts geht’s ins antike Argo-Land. Die Afrikaner wurden vom Produktions-Team vor Ort in Melilla und Ceuta durch den Frontex-Zaun interviewt und sind nun doppelt zu bedauern, tragen sie doch auf eine ihren teilweise berechtigten Anliegen nur sehr bedingt zuträgliche Weise zu Solbergs Agitprop bei.

 Live auf der Bühne gibt es eine vorgeblich meerestaugliche Argo, und die wird aus Betten gebaut. Jason, bei Janis Kuhnt zu Beginn ein romantisch verwilderter 68er Studenten-Typ, sitzt am Bühnenrand und liest das große Sagenbuch; der Rest schläft friedlich, aber ärmlich in fünf Feldbetten, bis dass ein ruppiger Kasernenhof-Appell die netten und blutjungen Rekruten in die Schlacht zur Eroberung des Goldenen Vlieses schickt: „Ich sehe, dass die Jugend der Länder der Kern der Heere in der Schlacht ist“, sagt Jason - komisch: irgendwie erinnert uns das an alte DDR-Parolen. Dann geht’s ans Bettenbauen … Verzeihung: ans Bootebauen aus Betten. Die Möwen schrein und ziehen schwirren Flugs durchs Carlswerk; schneien wird’s ja auch bald, wenn auch nur auf dem Volvo-Video, und es ist ein Bild wie von Subbotnik, als die Argonauten hinter ihren Betten nun davon rudern: alles sehr schön, alles ein bisschen nackt und amateurish. Kalauernd und griechische Verse deklamierend landen unsere Seefahrer zunächst auf Lemnos, wo sie für ihre „STAAT SEX AMEN“ lernen: mehr über Sex (bei den Schönen der Nightclubs, die, als sie ihre ehebrecherischen Männer töteten, nicht bedacht hatten, dass sie ohne Gatten nicht mehr begattet werden), weniger über Staat (denn Lemnos erscheint nicht als Vorbild) und gar nichts über Amen, wenn nicht alles täuscht. Aber der Kalauer ist gesetzt, wenn auch nur auf einem der überladenen Flip Charts am Rande der Bühne, und noch sind wir bereit zum Schmunzeln.

 Am Hellespont entlang geht’s nun zu den Bebrykern, wo König Amykos eine andere Art der Erotik zelebriert - eine reichlich machohafte. Justus Maier dröhnt Zuschauern und Argonauten einen ohrenbetäubenden Rap auf die Hörnerven und liefert sich anschließend mit Atalante oder Polydeukes, wen immer Lena Geyer auch gerade darzustellen versucht, einen Ringkampf in Slow Motion. Catch as catch can; es ist laut, es ist unruhig, und dann: Game Over für den grausamen König: Comics, Computerspiele und das, was Solberg für die Ästhetik der Jugend des 21. Jahrhunderts hält, dominieren die Aufführung, ab und an unterbrochen von einem Otto-Witz. Und schon nimmt das Argo-Schiff Kurs auf den wirbelnden Bosporus, also in die diametral entgegengesetzte Himmelsrichtung von Jasons Volvo, dessen verschneite Autobahnfahrt gleichzeitig im Bühnen-Westen erscheint. 

 Trifft der Volvo bald auf eingesperrte Schwarzafrikaner, finden die antiken Argo-Comedians den greisen Phineus, der „mit großer Kümmernis behaftet“ ist. Schließlich wird er ständig von den Harpyien angegriffen, denen weiße Neonröhren anstelle von Flügeln und Beinen gewachsen sind. Auf den armen Phineus kacken die Tauben wie in einem albernen Kinderspiel, dafür aber zu Tschaikowski-Musik, und auf dem Videoscreen taucht der zerbombte Mercedes von Alfred Herrhausen auf. Albern sind auch die Stimmen der Sirenen, die zum Strobolight erklingen, in dem Argo-Gefährte Hylas niedersinkt. Tieffliegende Kampfflugzeuge entfachen Feuer aus Scheinwerfern, zu Goethe-Versen wird Prometheus von Drohnen statt von Adlern angefallen. Er schreit wie am Spieß, so dass die gesundheitsgefährdende Dezibel-Grenze mal wieder überschritten wird und die Zuschauersitze vibrieren.

 Mit Drohnen, NPD- und Pegida-Sprüchen („Ist der Ali kriminell - in die Heimat, aber schnell“, bedienen auch die Rechtsradikalen Solbergs Freude am Kalauer) wird das Ganze 30 Minuten vor dem Ende halbwegs relevant, obwohl die hyperagile, aber wenig differenzierte Inszenierung eher im reinen Agitprop steckenbleibt. Das verwüstete Schlachtfeld, das die Aufführung zurücklässt, erinnert jedoch an große Kölner Zeiten: Für kurze Zeit glauben wir sogar, die Bühne von Karin Beiers grandiosem „König Lear“ wiederzuerkennen. Tatsächlich siegt am Ende gelegentlich die Depression über den Kalauer; und die Gegenüberstellung von antiker Argonauten-Sage und aktuellen Berichten aus den marokkanischen Flüchtlingslagern bekommt eine gewisse Dringlichkeit.   

 Was die sechs Schauspielschüler leisten, ist zumindest im Hinblick auf ihre physische Verausgabung aller Ehren wert. Henriette Nagel fällt in dem kleinen Ensemble auf: Sie ist diejenige, die die oft unerträgliche Hyperaktivität der Inszenierung mit ironischen oder gespielt kindlichen Einschüben unterläuft und für ein Lachen, für ein wenig Entspannung sorgt. Auch Janis Kuhnt gelingt es in wenigen Momenten, das Tohuwabohu zu beruhigen. Noch einer behält in allem dem Aufruhr und Klamauk die Ruhe: Lichtmeister Jürgen Kapitein schafft immer wieder großartige Bilder, und wenn auch er Angriffe auf die Zuschauernerven fährt, hat man zumindest das Gefühl, er wisse, was er tut.  Aber selten ist die Formulierung vom „krachenden Scheitern“ so treffend: Solbergs reiches Assoziationsgewitter scheitert im Lärm, im Krach und am mangelnden Gespür für Rhythmus.