Mit dem Fahrstuhl durch die Höllenkreise
Ungewöhnliche Theatererlebnisse sind garantiert, wenn Sebastian Baumgarten inszeniert. Im Jahre 2006 wurde er für seine Interpretation der Händel-Oper Orest an der Komischen Oper Berlin zum „Opern-Regisseur des Jahres“ gewählt; Sartres Schmutzige Hände sowie die Bulgakow-Inszenierungen Der Meister und Margarita und Sojas Wohnung am Düsseldorfer Schauspielhaus überzeugten durch ausgesprochen phantasievolle, der politischen Aktualität angepasste Interpretationen und überwältigende Bühnenbilder, und Tolstois Die Macht der Finsternis, im Jahre 2012 ebenfalls am Düsseldorfer Schauspielhaus eingerichtet, floppte zwar als Inszenierung, doch wurde das grandiose Bühnenbild der Aufführung mit der Nominierung für den wichtigsten deutschen Theaterpreis, den „Faust“, ausgezeichnet. Diesmal ist schon die Auswahl des Stoffes ungewöhnlich: Dantes Göttliche Komödie, eine Trilogie in mehr als 14 000 Versen aus dem frühen 14. Jahrhundert, gilt als die wichtigste Dichtung der italienischen Literatur und eines der bedeutendsten Epen des Mittelalters. Des Dichters philosophische Reise durch Hölle, Fegefeuer und Paradies erscheint wie geschaffen für die großartigen Bilderwelten des Sebastian Baumgarten.
Wer wissen will, wie die Inszenierung gelingt, muss nur die letzten vier Verse des Dante-Texts lesen: „Hier war die Macht der Phantasie bezwungen, / Doch Wunsch und Will’, in Kraft aus ew’ger Ferne, / Ward, wie ein Rad, gleichmäßig umgeschwungen, / Durch Liebe, die beweget Sonn’ und Sterne.“ Gegen die unmäßigen Herausforderungen, die Stofffülle und Inhalt des Textes stellen, kommt die szenische Phantasie der Regie irgendwann nicht mehr an, aber die Kraft und der Wille des Regisseurs und seine Liebe zu den Figuren sind dennoch bewundernswert. Wieder ist es vor allem die Bühne, die überrascht und fasziniert: Eine „Mala Via“ hat Thilo Reuther quer durch das riesige Depot 1 des Kölner Schauspiels gebaut, eine wenig einladende Wohn- und Gewerbegebietsmischung mit zweistöckiger Bebauung, ein paar heruntergelassenen Garagentoren im Untergeschoss und ein paar Bürofenstern oben. Und mit einem Aufzug, der uns später in die verschiedenen Geschosse der Hölle transportiert. Kerzen leuchten in den Fenstern, dicke Fische schwimmen links oben, ein „Venceremos“ Schriftzug, gekreuzte Gewehre vor Halbmond und Stern weisen weit über Dantes christliches Inferno hinaus. Tatsächlich ist später explizit von Syrien, Irak, Iran und Afghanistan die Rede. „Gefallen ist Babylon die Große, die alle Völker betrunken gemacht hat mit dem Zornwein ihrer Hurerei“, wird die Offenbarung des Johannes zitiert. Gottes Zorn wütet auch heute noch über der Welt.
Die Via Mala hat schon ein Opfer gefordert: Vorn rechts werkelt Vergil an einem havarierten Alfa 156 herum, der Assoziationen an Fellinis Roma weckt und in dem später nach einer akustischen Verfolgungsjagd Dantes Zeitgenossin Francesca da Rimini erschossen wird. Glocken läuten, ein Metzger schleicht durch den Schnee im Vordergrund und schleppt einen Eimer mit blutigen menschlichen Organen. Das Schnee-Karree wird sich bald als Friedhof entpuppen. „Die Straßen stinken nach Blut“, heißt es, und der Blinde (Mohamed Achour, ein krummes Faktotum und seltsamer Heiliger) fragt: „Woran soll man noch glauben?“ Bilder und Soundtrack scheinen einem Horror-Film zu entstammen. Ein gebeugter, offenbar von einer langen Höllenfahrt in den Krieg zurückkehrender Guido Lamprecht stellt sich als der Dichter Alighieri vor und erfährt, dass seine geliebte Beatrice verstorben ist. In einer Konferenz wird darüber debattiert, wie Gott ins Bewusstsein der Menschen zurückzuholen ist und deren Seelen in den Himmel zu führen sind. Vielleicht müsse man Gott über die Medien beschwören. - Oder vielleicht durchs Theater? Dante wird zu diesem Medium erklärt: „Ihm wollen wir eine Welt zeigen, in der alle bereits tot sind.“ Und seine Reise beginnt.
Was für ein Prolog: dicht, fesselnd, voller grandioser Bilder und voller nicht leicht zu entschlüsselndem Assoziationsmaterial. Vergil wird den Dichter nun durch Inferno, Purgatorio und Paradiso führen, durch Hölle, Fegefeuer und Paradies. Dante, eh schon reichlich angeschlagen, schafft das nur mit reichlich Doping: Immer wieder muss Seán McDonagh seinem Wegbegleiter eine riesige Spritze in den Hals rammen. Doch nur mittels solcher Droge kann der Dichter lesen und ertragen, was den Seelen widerfährt, die er auf seiner Höllenreise trifft. Als da sind im Kreise 1: Die Ungetauften: hehre Mediziner und Mathematiker zum Beispiel, tugendhafte Heiden, deren einzige Sünde ist, dass es das Christentum noch gar nicht gab, als sie praktizierten. Zu dieser Spezies gehört auch Dantes Führer Vergil; im Rotlicht-Etablissement von Nicola Gründel werden diese Seelen schnell reingewaschen. Mit dem Fahrstuhl geht es durch die verschiedenen Kreise oder Etagen des Infernos; Dante trifft auf die Wollüstigen, die Gierigen, Geizigen und Verschwenderischen, auf diejenigen, die sich des Zorns schuldig gemacht haben, auf Ketzer, Gewalttäter, Selbstmörder und Gotteslästerer. Er erfährt „davon, dass der Geiz das Rad der Welt nicht dreht“ und erlebt eine ganz besondere Art der Mülltrennung: Die geizigen Seelen werden gezwungen, Schmuck und allzu reiche Kleidung zu entsorgen. Er erfährt „davon, dass der Glaube weiterführt als der Unglaube“ und sieht die Atheisten in zahlreichen Feuerchen brennen, „davon, dass der Verrat dem Fressen von Menschenseelen gleichkommt“, wobei er Graf Ugolino della Gherardesca am Schädel des Erzbischofs Ruggieri knabbern sieht - die beiden Verräter schmoren im 9. Kreis der Hölle und quälen einander, so wie sie es schon im echten Leben taten.
Baumgarten und sein Team finden für all diese Höllenkreise phantasievolle Bilder. Die großartige Bühnenkonstruktion kommt nun voll zur Entfaltung: Der Aufzug fährt auf und ab, und immer neue Bilder erscheinen in den Fenstern und hinter den nun geöffneten Garagentoren. Das Regieteam, das eine beeindruckende Menge Gehirnschmalz in die Inszenierung investiert hat, spielt dabei ironisch mit italienischen Klischees und mit Filmzitaten und fügt so der Aufführung humorvolle Elemente bei. Dennoch ermüdet der Abend nun, denn letztlich erschöpft sich die Erzählung - analog zu Dantes literarischem Werk - in einer endlosen Aufzählung verschiedener Sünden und ihrer Bestrafungsformen. Leider verstärkt sich diese Tendenz im - erheblich kürzeren - zweiten Teil, dem „Fegefeuer“, in dem die Reinigung der Seelen erneut über neun verschiedene Kreise abgearbeitet werden muss. Nun lässt auch die Macht der Bilder nach und es häufen sich eher deklamatorische Szenen. Im Paradies trifft Dante endlich seine Mighty Aphrodite (sprich seine plietsche Beatrice) wieder: Yvon Jansen, die zuvor immer wieder als verblühte Schönheit durch die Szenerie gegeistert war und den ausflippenden Dichter auch mal zur Ordnung gerufen hatte, erstrahlt nun als attraktive junge Frau zur vollen Blüte. Dante aber wirkt keineswegs von seinem Trauma geheilt. Er steht offenbar nach wie vor unter dem Einfluss von Drogen und ist im wahrsten Sinne des Wortes verrückt geworden. „Wir sind der Welt abhanden gekommen“, zwitschern die Schauspieler ein Mahler-Lied, und das erscheint insbesondere im Hinblick auf den Geisteszustand des Dichters nicht als gute Nachricht. Ein Nachrichten-Potpourri erklingt nun auch aus den Lautsprechern, und Nachrichten sind im 21. Jahrhundert wie vor 700 Jahren vor allem Katastrophenmeldungen. Nebel wallt, Explosionen erschüttern die Theaterhalle. Hölle heute. Und doch: matter Applaus. Das Regiekonzept trägt nur bis knapp zur Hälfte.
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