Herz der Finsternis/ Die lächerliche Finsternis im Bonn/Mülheim

Den Kongo und den Hindukusch hinauf

Zerstörerische Gier und morbider Charme: Conrads Herz der Finsternis in Bonn

Bühne, Licht und Sound dieser Inszenierung sind preisverdächtig. Der morbide Charme des Kolonialismus schwappt vom Kongo Fluss bis auf die Zuschauerränge der Halle Beuel. Nach einem alten Foto hat die Bühnenbildnerin Julia Kurzweg die „Roi des Belges“ nachgebaut, mit der der Schriftsteller Joseph Conrad einst in den Kongo reiste. Mit leichter Schlagseite steht das Schiff  mitten in der Halle. Conrads Alter Ego Kapitän Marlow schippert zunächst an der Küste entlang, dann den Fluss hinauf mitten ins Herz der Finsternis, wo der so skrupellose wie geheimnisumwitterte Elfenbein-Agent Kurtz zum Gesicht einer ausbeuterischen, menschenverachtenden Kolonialmacht geworden ist. Wir sitzen auf einer großen Tribüne, die sich ausnimmt wie ein zweites Außendeck des Schiffes, und treiben in ruhigem Tempo auf dem Dampfer die Küste entlang. Wer Glück hat, darf in einem bequemen Sessel aus dem 19. Jahrhundert Platz nehmen, prominent ein wenig nach vorn geschoben, und könnte huldvoll winken, wenn ihm denn ein zweites Schiff entgegenkäme.

Vorerst aber sind wir noch im Kolonialclub. Die Akteure rekeln sich zwanglos im luxuriösen Ambiente auf der Chaiselongue, und ab und zu klimpert einer ein paar hübsche Melodien auf dem Piano. Später erst kommt das Wasser. Zu einem dramatischen Soundtrack werden Planen um das Schiff herumgezogen, und schon wogt das Plastikmeer. Im Zusammenspiel mit der magischen Beleuchtung, dem Tuckern des Schiffsmotors, dem Vogelzwitschern und anderen geheimnisvollen Geräuschen des Urwalds schicken uns Bühnenbildnerin und Sounddesigner auf eine exotische Abenteuerreise. Der Schiffsschornstein raucht, einer liegt in der Hängematte, einer steht mit der Knarre an der Reling und hält Wache, und Komi Togbonou sitzt auf dem Oberdeck am Schreibtisch. Müßiggang herrscht auf dem Schiff, aber mehr und mehr spüren wir auch Anstrengung und Gefahr. Laura Sundermann sonnt sich im  Bikini, Benjamin Grüter rauscht auf dem Surfbrett an uns vorbei, und wir lauschen Joseph Conrads Schilderungen einer fremden, gefährlichen Welt. Doch da: „ist etwas Komisches im Wasser!“ „Schwarze Gestalten hocken, liegen, sitzen am Boden“, beobachtet Komi Tobonou: Wir passieren die Todesstation, in die sich verzweifelte schwarze Sklaven des Elfenbeinhandels zurückgezogen haben, um einsam und unter unerträglichen Schmerzen zu sterben. Diesen von Conrad geschilderten Todeshain hat es tatsächlich gegeben: Es ist ein unerträgliches, düsteres Szenario, das Togbonou beschreibt. Doch away with melancholy: „Welcome to Africa“, ertönt es fröhlich. Zähneputzen, Partymusik, Tanzen. Touris auf dem Kongo ...

So ist das in Jan-Christof Gockels zumindest bis zur Pause grandioser Inszenierung. Sie changiert zwischen Party und dem Leben als langem, ruhigem Fluss, zwischen Albernheiten, Düsternis und einer trügerischen Romantik, zwischen heutiger Umgangssprache und Originalton Joseph Conrad. Früh schon, gleich nach der Eingangsszene im Kolonialclub, wird sie gebrochen durch Kabarett und Comedy. Und ausgerechnet Kabarett und Comedy stehen für das ernsthafte Anliegen der Inszenierung. Alois Reinhardt wird zu König Leopold II. von Belgien umgekleidet; wir schwenken hinüber zur Berliner Afrika-Konferenz des Jahres 1884/85, wo „der große Kuchen verteilt“, der weiße Fleck auf dem schwarzen Kontinent zwischen den Kolonialmächten aufgeteilt wird. Auch der Zuschauer bekommt großzügig ein Stück des frisch gebackenen Kuchens ab, doch gierig und etwas debil reißt sich der König das größte Stück unter den Nagel. Reinhardts Leopold schwafelt etwas von einer Freihandelszone - dem „größten humanistischen Werk unserer Zeit, höchstens vergleichbar mit dem Roten Kreuz.“ Humanismus? Die in der Kongoakte festgelegte Handelsfreiheit für die 14 Unterzeichner-Staaten führte nur zur umso brutaleren Ausbeutung Zentralafrikas - „das Land wurde quasi zum Besitz eines einzigen Mannes“, sagt Komi Togbonou, nunmehr als dokumentarischer Berichterstatter.  - Neben Original-Conrad-Sprech und einer Vielzahl eigener Texte haben Gockel und sein Dramaturg David Schliesing Originalzitate aus den Protokollen der Afrika-Konferenz in die Aufführung eingebaut; mit Filmen und Radio-Interviews machen sie uns mit dem berüchtigten Kongo-Müller bekannt, der, einstmals Stahlhelm-Mitglied, Fähnleinführer und strammer Nazi, später an der wenig feinfühligen Niederschlagung des Simba-Aufstands im Kongo beteiligt war. Müllers Selbstdarstellung weist erstaunliche Parallelen mit Conrads durchgeknalltem Agenten Kurtz auf; im zweiten Teil der Aufführung werden immer wieder die von den Müller-Söldnern angerichteten Massaker mit den Grausamkeiten der belgischen Kolonialherren verglichen. Comedy und Albernheiten sind nun fast völlig aus der Aufführung verschwunden; der grenzenlose Zynismus der Europäer wird ausgestellt, und die kabarettistischen Szenen fußen auf bitterem Sarkasmus. 

Als Zuschauer fährt man voll auf Jan-Christoph Gockels grandioses Bildertheater ab, aber der Regisseur liefert auch eine sarkastische, bittere Analyse des Kolonialismus und seiner Nachwirkungen in der Dritten Welt. War es zu Zeiten von Charles Marlow und dem Agenten Kurtz vor allem die Gier nach Elfenbein, so sind es heute Bodenschätze, derentwegen der afrikanische Kontinent ausgebeutet wird: Coltan, Uran oder Zink, Gold, Silber oder Diamanten,. Fehlentwicklungen im Bereich der Entwicklungshilfe werden thematisiert. Folklore-Neger mit riesigen Penisköchern und wilden Tänzen treten auf; Laura Sundermann beobachtet die Völkerschau im eleganten Hosenanzug aus sicherer Distanz. Der dunkelhäutige Togbonou trägt ein Jäger- oder Zirkusdirektoren-Jackett über weiß geschminkter Haut und kehrt im Verein mit seinen Co-Kombattanten das Verhältnis zwischen weißen Kolonialherren und schwarzen Unterdrückten um - doch das Lachen bleibt einem im Halse stecken. Es gibt eine zynisch-sarkastische, ebenfalls durch Black- und Whitefacing verfremdete Christianisierungs-Szene, die Abrichtung der Ureinwohner zum Killerkommando und vieles andere mehr - nach der Pause kippt das Regie-Team in schneller Folge seinen ganzen Vorrat an Ideen und Aktualisierungsversuchen aus, so dass die Inszenierung vorübergehend etwas überladen und unrhythmisch wird. Aber der Abend überzeugt vor der Pause durch sein phantastisches Bildertheater und nach der Pause durch die Wucht seiner politischen Aussage.

 „Wir brauchen Männer wie Kurtz, die tun, was getan werden muss“, sagt Laura Sundermann einmal. „Das System ist kriminell, aber wir brauchen diese Methoden, um das System am Laufen zu halten.“ Gockel zeigt auf, dass das System Kurtz heute nicht verschwunden ist, sondern seine Anwendung nur filigraner erfolgt. Der letzte Satz gehört Komi Togbonou: „Die Finsternis kommt. Die Finsternis ist nicht lächerlich. Die Welt wird finster.“


Wüste Inszenierung, hinreißende Groteske: Lotz‘ Die lächerliche Finsternis in Mülheim

 

Und so spielt der Schlusssatz der Bonner Inszenierung auf die jüngste Bearbeitung von Joseph Conrads Erzählung an: Wolfram Lotz‘ Die lächerliche Finsternis, basierend mehr noch auf Francis Ford Coppolas Apocalypse Now als auf Joseph Conrads dem Coppola-Film zugrundeliegender Erzählung, wurde im September 2014 in der Regie von Dušan David Parízek am Akademietheater Wien uraufgeführt; die Inszenierung wurde sowohl zum Berliner Theatertreffen als auch zum Mülheimer Stücke-Festival eingeladen. In der Publikumsdiskussion bei den Mülheimer Theatertagen versuchten der Dramatiker und der Regisseur eine Einordnung der drei Werke: Conrad erzähle, wie der Kolonialismus die Dritte Welt zu dominieren (und zu domestizieren) versuche, und zeige die hoffnungslose Überforderung der Ersten Welt. Coppola übertrage das Gerüst der Geschichte auf den Vietnam-Krieg und stelle die Rolle der USA als Weltpolizei in Frage. Lotz dagegen gebe sich mit beidem nicht zufrieden: Der Prozess der Auseinandersetzung mit den politischen und wirtschaftlichen Konflikten zwischen Erster und Dritter Welt müsse bei uns in Europa und bei jedem individuell beginnen. Dramatiker Lotz, der wie gewohnt einen assoziationsstarken und höchst skurrilen Text verfasst hat, besteht in der Diskussion darauf, er habe das alles sehr ernst gemeint. Man glaubt es kaum, wenn man Parízeks wüste Inszenierung sieht und die von groteskem Humor nur so strotzenden Dialoge und Monologe liest. Aber zum Lachen ist das alles nicht, wenn man hinter den teilweise aktionistischen Humor von Parízeks Inszenierung blickt.

 „Das Grauen, das Grauen“ herrscht bei Lotz nicht im kongolesischen Urwald oder im vietnamesischen Dschungel, sondern in den Krisenregionen zwischen Somalia und Afghanistan; die Personnage besteht vor allem aus drei deutschen Soldaten mit möglicherweise nicht ganz bundeswehruntypischen Lebensläufen: Conrads Charles Marlow (Coppolas Captain Willard) heißt hier Oliver Pellner, ist Hauptfeldwebel und nicht gerade einer der hellsten und selbstständigsten Denker - schließlich ist er an klare Befehlsstrukturen gewöhnt. Pellner soll den offenbar aus der Kontrolle geratenen Oberstleutnant Deutinger suchen, der in Afghanistan zwei Kameraden umgebracht hat, und ist dieserhalb mit dem Boot den Hindukusch hochgefahren („Hier sagen die Leute: „Der Hindukusch ist doch kein Fluss, das ist ein Gebirge.“ Die Leute sehen was im Fernsehen und glauben es einfach …“) Unteroffizier Dorsch, ostdeutscher Langzeitarbeitsloser mit nicht abgeschlossenem Studium der Sozialen Arbeit, der sich mangels Alternativen zum Zeitsoldaten verpflichtet hat, begleitet ihn. Alle anderen Figuren werden in der Wiener Uraufführung entweder von den Darstellern der drei Soldaten oder von der jungen Stefanie Reinsperger verkörpert.       

Lotz und Parízek erzählen die im Grunde zutiefst erschreckende Abenteuergeschichte von der Reise in die „Regenwälder Afghanistans“ (!) und zu den Grausamkeiten des zeitgenössischen Neokolonialismus als eine Abfolge schriller Kalauer und Absurditäten. Voller grotesker Diskurse folgt der Theaterabend zwar im Erzählduktus und im Ablauf in groben Zügen den beiden Vorlagen, wirkt aber häufig wie eine Karikatur, zumindest wie eine böse Satire. Die Aufführung unterläuft alle Erwartungshaltungen, beginnend mit der monströsen Idee, sämtliche Figuren dieser Macho-Männer-Welt mit Frauen zu besetzen, und sie wechselt ständig die Erzählebenen. Sie klagt an: die Überfischung der Weltmeere, den zu kriegerischen Auseinandersetzungen führenden Wettkampf um den Coltan-Abbau, die sinnlosen oder unüberlegten Bombardements (der fatale Angriff auf den liegengebliebenen Tanklastwagen bei Kundus im September 2009 wird motivisch verarbeitet). Sie ist eine satirisch überspitzte Auseinandersetzung mit den Strukturen und Ritualen der Soldateska. Sie thematisiert Angst und Schuldgefühle bei Soldaten und Opfern. Sie spießt den Sexismus eines Missionars auf, den Religionsfanatismus, den falsch verstandenen Idealismus. Großartig gibt Dorothee Hartinger den italienischen Blauhelm-Soldaten Lodetti, der von dem Krieg, in den er selbst verwickelt ist, nichts mitbekommt, weil es „in diesem dreckigen Kaff in Afghanistan“ kein Internet gibt. Und der „auf diese gottverdammten Wilden“ schimpft, weil sie die europäischen Standards der Müllverwertung nicht einhalten - eine Überspitzung des eurozentrischen, ausschließlich von westlichen Kultur- und Lebensvorstellungen geprägten Blicks auf die fremde Kultur, der jede Verständigung unmöglich macht. Atemberaubend wird gekalauert und mit den Rollenerwartungen gespielt: Stefanie Reinsperger stellt sich in breitestem austriakischem Dialekt als „schwarzer Neger aus Somalia“ vor, als Fischer und Pirat mit Diplom von der Hochschule für Piraterie in Mogadischu. Dieser schwarze Neger aus Somalia ist ein Urviech aus den österreichischen Dörfern, und er erzählt eine hinreißend abstruse, urkomische Geschichte. 

Unterlaufen werden auch die Erwartungen des Publikums an den Ablauf eines Theaterabends. „20 Minuten Pause, wenn Sie möchten“, werden angekündigt. In diesen 20 Minuten wird die Bühne zerlegt. Der graphische Raum aus klaren Holzstrukturen und Sperrholzwänden, der der Zivilisation ein Ordnungsgefüge gibt, wird unter ohrenbetäubendem Lärm 20 Minuten lang durch eine Fräse gejagt und zu Sägemehl verarbeitet: Es ist das Ende der Zivilisation, die allenfalls noch durch die Mutter des Autors beschworen wird, die sich während dieser sogenannten Pause über die völlige Abwesenheit von weiblichen Figuren im Drama ihres Sohnes beschwert. Nun, bei Parízek sind es gleich vier Damen, die die Bühne bevölkern, und was auch immer man von der Aufführung halten mag - das virtuose Spiel von Reinsperger und Hartinger sowie von Catrin Striebeck als Pellner und Frida-Lovisa Hamann als Dorsch ist einfach hinreißend.

Jan-Christof Gockel hat in Bonn mit vielen ästhetischen Brechungen die Erzählung von Joseph Conrad um eine Geschichte der Kolonialisierung erweitert. Francis Ford Coppola schuf in seinem Film Apocalypse Now eine ungeheuer brutale, bisweilen aber auch überraschend ästhetisierende Abrechnung mit den USA. Wolfram Lotz und sein Uraufführungs-Regisseur Parízek drehen die Schraube noch ein wenig weiter. Lotz hat eine merkwürdige Mischung aus Groteske und ernsthafter Anklage geschaffen und den Blick auf die europäischen Fehlinterpretationen geschärft, und Parízek legt noch einmal einen Zahn zu im Hinblick auf Tempo, Brechungen und überraschende Theaterbilder. Nicht immer mag man ihm durch Lärm und Chaos folgen, aber als theatrales Experiment ist der Abend allemal einen Besuch wert.