Der Theatermacher im Studio-Bühne Essen

Der „Schwarze Hirsch“ von Essen-Kray

Auf den Tag genau 25 Jahre vor der Premiere hatte die Studio-Bühne Essen ihr Domizil an der Korumhöhe in Essen-Kray bezogen. „Drama, Wahnsinn, Kinderlachen“ heißt das Motto des kleinen Amateur-Theaters: Mit Kinderstücken und mehr oder weniger wahnsinnigen Komödien füllt das Haus seitdem die Kasse, aber herausragende Inszenierungen gelingen dem ambitionierten Team immer wieder mit ernsthaftem Drama und Literaturtheater. Was also könnte besser zum Jubiläum passen als der Staatsschauspieler Bruscon in Utzbach: Mit dem Theatermacher schenkte sich die Studio-Bühne zum 25jährigen ihre erste Thomas-Bernhard-Inszenierung.

Große Herzlichkeit und Gastfreundschaft sind normalerweise Markenzeichen des kleinen, privat geführten Theaters im Essener Nordosten. Doch nach 25 Jahren an der Korumhöhe wird alles anders. An der Kasse wird man muffelig empfangen; kaum ein Zuschauer kommt ohne pampige Bemerkung an Heidi Matten am Kartenverkauf vorbei. Die Spuren der morgendlichen Sause mit Ex-Ruhr2010-Chef und Kultur-Professor Oliver Scheytt (siehe hier) sind scheinbar noch nicht beseitigt, denn Sandra Mader, die Putzfrau des Hauses, wischt inmitten der Gäste den Fußboden, so dass man ständig die gottlob nicht allzu frisch geputzten Schuhe in Sicherheit bringen muss. Kray ist, es lässt sich nicht verleugnen, genauso hinterwäldlerisch wie Utzbach, und seine Menschen sind nicht weniger stieselig.

Schon klopft es an der Eingangstür, und herein stürmt mit großer Geste der Staatsschauspieler, mit der verhuschten Gattin und einem wie Quax der Bruchpilot gekleideten Hektiker als Chauffeur im Gefolge, der sich später als Bruscons Sohn entpuppen wird. Bruscon kriegt die Zimmerschlüssel hingeknallt, und wir folgen ihm die Treppe hinauf in das, was der Schreiber dieser Zeilen einmal als „das originellste und kuscheligste Wohnzimmer in der NRW-Theaterlandschaft“ bezeichnet hat und in dem es sonst nach den Vorstellungen leckeren Wein und lokales Bier gibt. Bruscon, hochmütig und egozentrisch, bestellt näselnd die legendäre Bernhard’sche Frittatensuppe, und los geht’s. Mit den Verwünschungen über Utzbach und den Drohungen der Abreise, falls bei der Aufführung im heruntergekommenen Saal des „Schwarzen Hirschen“ nicht das Notlicht ausgeschaltet werden darf. Bernhard und sein Freund und Uraufführungs-Regisseur Claus Peymann hatten zu der Zeit, als Der Theatermacher geschrieben wurde, bereits ihre einschlägigen Erfahrungen gemacht mit österreichischen Notlicht-Verordnungen …

Die Studio-Bühne dagegen hat ihre einschlägigen Erfahrungen mit Bau-Sachverständigen. Die haben vor einigen Jahren nach 15minütiger Prüfung das gemütliche Haus an der Korumhöhe als Schrott-Immobilie bezeichnet, und prompt droht dem Domizil des Theaters der Abriss und den Künstlern die Obdachlosigkeit. Als hätte Thomas Bernhard es geahnt, lässt auch er seinen Bruscon wieder und wieder gegen die Schrott-Immobilie wettern, in der er spielen muss: über „diese Wändescheußlichkeit / diese Deckenfürchterlichkeit / diese Türen- und Fensterwiderwärtigkeit“. „Seit 40 Jahren nicht übergemalt“ sind diese Wände - inzwischen wohl seit 70 Jahren nicht mehr, denn noch immer hängt im Theatersaal ein Hitlerbild. - Ja, nach einem kurzen Aufenthalt im großzügig breiten Treppenhaus sind wir inzwischen im Theatersaal der ehemaligen Schule an der Korumhöhe angelangt: Das Regie- und Schauspieler-Team nutzt das erste Viertel des ca. zweieinhalbstündigen Abends zu einer Führung durch alle wesentlichen Räume des Hauses, das in der Inszenierung von Wolfgang Gruber eine Hauptrolle spielt und geschickt auch gegenüber kritischen Stadträten in Szene gesetzt wird.

Die wahre Hauptrolle in Bernhards Stück gehört dem Theatermacher Bruscon. Die übrigen sechs Figuren sind eher Stichwortgeber in einem großen misanthropischen Monolog. Andreas Gruber ist es, der diesen Bruscon spielt - nicht verwandt oder verschwägert mit dem auf den gleichen Hausnamen hörenden Regisseur, aber identisch mit dem jungen Schauspieler, der auf den Tag genau vor 25 Jahren den allerersten Satz auf der nagelneuen Bühne des Hauses an der Korumhöhe sprach. Großartig haben die Kostümbildnerinnen diesen Bruscon ausgestattet: Im zerschlissenen, einstmals eleganten Mantel, den Schal mit künstlerischer Koketterie um den Hals geschlungen und lässig den Spazierstock über den Arm gelegt, gibt Andreas Gruber seiner Figur schon rein optisch die tragische Lächerlichkeit des gescheiterten Künstlers, der, anstatt in Zürich oder Berlin den Mephisto zu spielen, mit seinem eigenen, vermutlich hoffnungslos verstiegenen Werk „Das Rad der Geschichte“ durch Wirtshäuser in der hintersten Provinz tingelt. Gleichzeitig ist der bis zum Erbrechen eitle angebliche Staatsschauspieler ein egozentrischer, narzisstischer Tyrann und radikaler Misanthrop. Selbstverliebt und rücksichtslos würdigt er seine Familie in zutiefst verletzender Form herab. Gruber legt den Bruscon mit näselnder Arroganz auf der Grenze zwischen der Hybris eines großen Schauspielers und dem Dilettantismus eines minder begabten Hochstaplers an, so dass - wie in Bernhards Stück - offen bleibt, ob Bruscon tatsächlich einmal Staatsschauspieler oder stets nur ein gescheiterter Provinz-Mime war. Der Figur gehören sämtliche Bonmots des Texts; allerdings spielt Gruber stets mit gleicher übertriebener Gestik und Mimik und nölender Intonation, so dass er nicht über die gesamte Dauer des Abends fesseln kann.

Bruscons Gattin und designierte Co-Schauspielerin im „Rad der Geschichte“ ist schwer lungenkrank. „Lungenkranke sind schwierige Leute“, hat der selbst unheilbar an Sarkoidose leidende Thomas Bernhard dem Bruscon in den Mund gelegt. Und: „Mit Frauen gibt es die meisten Schwierigkeiten im Theater … Frauen machen Theater / Männer sind Theater / Das ist die ganze Schwierigkeit.“  Doch so wie Kerstin Plewa-Brodam als elegante, leidende Diva wider Willen im Stuhl hängt, herzerweichend dauerhüstelt und kraftlos Bruscons mitleidlose Schimpf-Tiraden über sich ergehen lässt, geraten ihre kurzen stummen Auftritte zu einsamen Höhepunkten dieser Aufführung. - Bruscons Sohn Ferruccio trug einst die Hoffnungen des Vaters auf die Fortsetzung einer großen Schauspieler-Dynastie, doch ist Sebastian Hartmann nicht der gewünschte große „Büüüühnenkünstler“, sondern der Mann fürs Praktische im Blaumann. Bezaubernd gerät die stumme Szene, in der sich eine zarte Liebe zwischen Ferruccio und der Wirtstochter Erna (der anfänglichen Putzfrau Sandra Mader) entspinnt. Johannes Brinkmann überzeugt als Dorfwirt, der stoisch, mit ausdruckslosem Gesicht Bruscons Tiraden gegen Utzbach und die kulturlose Dorfbevölkerung über sich ergehen lässt, dem aber noch im Schlaf der rechte Arm in die Höhe schnellt, sobald der Name Hitler fällt. Er ist ein eher biederer Nazi; nicht flinkzähhart, sondern bedächtig verkörpert er den alltäglichen Rechtsradikalismus und das gedankenlose Mitläufertum im einfachen Volk.         

Wolfgang Grubers Inszenierung kitzelt vor allem die komödiantischen Aspekte in Bernhards Stück (und Bruscons typischer Bernhard-Suada) heraus. Es gibt viel zu lachen, viele kleine szenische Einfälle und unübersehbare Bezugnahmen auf die Nörgelei der Theater-Zuschauer im Allgemeinen sowie die Probleme der Studio-Bühne im Besonderen. Der Herausforderung, die das handlungsarme, monologlastige Stück für das Theater darstellt, hat der Regisseur sich mutig gestellt; allerdings hätten ein paar Kürzungen dem Abend gut getan. Doch erneut hat die Studio-Bühne mit viel Mut und Geschick eine bemerkenswerte Aufführung geschaffen, die man an einem kleinen Amateurtheater nicht vermuten würde. Erfreut gehen wir nach dem langen Schlussapplaus wieder die Treppe hinauf ins Wohnzimmer und genießen den Wein in Essens neuem, altem „Schwarzen Hirschen“.