Übrigens …

Die Stunde da wir nichts voneinander wußten im Recklinghausen Ruhrfestspiele

In Zukunft sind’s Chinesen

Irgendwann steht Peter Handke an der Rampe, zückt die Kamera und fotografiert sein Publikum. Natürlich ist es nur ein Handke-Lookalike, der da von der Bühne guckt, aber der echte Handke hätte ebenfalls einiges festzuhalten aus dieser Inszenierung, die über den ursprünglichen Text weit hinausgeht. Die Stunde da wir nichts voneinander wußten ist ein Stück ohne Worte, aber mit 55 Seiten Regieanweisungen und 350 Rollen. Gezeigt wird ein Platz in einer Stadt am Meer, die auch Bochum, Recklinghausen oder Hamburg heißen kann. In Muße und Gelassenheit soll der Zuschauer die Bewegungen auf diesem Platz beobachten. Menschen begegnen sich, die nichts voneinander wissen, die also aneinander vorbeilaufen, vielleicht auch mal übereinander stolpern, die schlendern oder rennen retten flüchten, die still verweilen, aber nicht miteinander kommunizieren. Und selbst wenn einmal Moses mit den Gesetzestafeln den Platz quert, schaut keiner hin - man weiß ja nichts von ihm, und der alte Mann wirkt heute eh eher wie ein Penner als wie ein charismatischer Weiser. Bei Erscheinen im Jahre 1992 galt solch ein stummes Stück als Provokation; heute, da sich die Genres der Darstellenden Kunst immer stärker vermischen, muss die Regie schon viele ungewöhnliche Einfälle aufbieten, um mit der Kreativität von Handkes seinerzeitigem Einfall mitzuhalten.

Die Deutsche Erstaufführung durch Jürgen Gosch am Schauspielhaus Bochum am 13. März 1993 bewies, dass der oft so esoterisch daherkommende Handke auch über eine Menge Humor verfügt. Goschs 100 Minuten lange Inszenierung war temporeich und witzig, hatte Rhythmus und Lokalkolorit und wurde als ungeheuer unterhaltsam empfunden. Jetzt hat das estnische Regisseurs-Ehepaar Tiit Ojasoo und Ene-Liis Semper das Stück für die Ruhrfestspiele Recklinghausen und das Thalia Theater Hamburg eingerichtet und es wieder ein wenig esoterischer gemacht. In getragenem Rhythmus intonieren 20 mitten im Publikum platzierte Sägerinnen und Sänger die Regieanweisungen als feierliche Choräle. Das erhöht das Geschehen auf der Bühne und gibt dem manchmal hektischen, häufiger aber zeitlupenartigen Bildertheater ein gewisses Pathos. Geschickt verbindet das Regie-Team Handkes isoliert voneinander stehende Szenen zu einer motivischen Struktur. Schon der Dramatiker erweitert das alltägliche Personal, das über den Platz defiliert, durch mythische oder historische Figuren, aber Ojasoo und Semper bauen diese Stränge aus und setzen Schwerpunkte. Und es entbehrt nicht der Ironie, wenn der Chor in einem der wenigen langatmigen Augenblicke weihevoll ein wiederholtes „Dann passierte nichts“ erschallen lässt. Moses taucht auch wieder auf - aber nicht als gespielter Witz, sondern als eines von vielen Bildern aus der Welt der Religionen. Christen, Juden und Muslime ziehen vorbei, stehen an der Klagemauer oder feiern das Chanukka-Fest; ein Muezzin ruft, Choräle erklingen, schwarz verhüllte Frauen knien demütig nieder, ein Boot mit einer weißen Madonnen-Statue zieht vorbei. Sinterklaas und der geblackfacte Zwarte Piet begegnen echten Schwarzen, und die empfinden Piet nicht als rassistisch, sondern lachen sich schlapp - das mag ein Kommentar zur blödsinnigen Debatte darüber sein, ob es zu rechtfertigen ist, alte Traditionen aus einer Zeit mit weniger political correctness fortzusetzen. Afrikanische Stämme bieten Folkloristisches; die schönste Frau ist ein männlicher Samba-Tänzer mit schwulem Latino-Touch.

Ojasoo und Semper gehen nicht nur zurück in die europäische und außereuropäische Kulturgeschichte, sondern sie haben sich von Handke auch die Erlaubnis geholt, das Stück in die Gegenwart fortzuschreiben. Die Multikulturalität wird stärker betont, ebenso das meist friedliche, aber auch offensiv ausgestellte Nebeneinander und Gegeneinander der Religionen. Und die Entwicklung der Geschäftswelt weg von der sozialen Marktwirtschaft hin zum Verdrängungswettbewerb des Turbo-Kapitalismus: Zu Beginn hetzen graue Business People mit ihren Aktenköfferchen über den Platz, wichtige Ich-AGs, die einander nicht ansehen und keinerlei Rücksicht nehmen auf die Verlierer der Gesellschaft. Später tauchen diese Business People im mittlerweile ikonographisch gewordenen Bild von der Lehman Brothers Pleite wieder auf und schleppen Kartons aus ihren Büros: Auch die Wichtigen sind zu Verlierern geworden. Doch wie die heutigen Investment Banker machen sie weiter wie bisher: Einige Szenen später laufen sie in des Kaisers neuen Kleidern über die Bühne - erneut ganz wichtig mit ihren Aktenkoffern, aber splitternackt. Längst sind sie dechiffriert, nur sie selbst merken es nicht. Am Ende aber sind es wieder die grauen Männlein und Weiblein vom Anfang, die die Bühne queren. Nur sind fast alle von ihnen Chinesen ...     

Tiit Ojasoos und Ene-Liis Sempers Inszenierung ist intellektueller und pathetischer als Goschs vielen Zuschauern noch in bester Erinnerung befindliche Bochumer Aufführung. Sie ist schwieriger, und sie hat Längen, obwohl das Team das ursprünglich erarbeitete Material von vier Stunden auf knapp zweieinhalb eingekürzt hat. Doch auch die Inszenierung ist nicht ohne Humor: Von liebevoller Komik geprägt ist die Szene mit den beiden in Zeitlupe einander begegnenden Fahrrad-Postboten; vor einem leicht verrückt erscheinenden Atlas, der eine goldene Weltkugel und eine rote Lichterkette trägt, macht ein zufälliger Passant ein Selfie; ein blitzschneller Handtaschen-Diebstahl reizt zum Lachen. Doch dann wieder gibt es Zeichenhaftes: Drei junge hübsche Frauen begegnen drei Piloten - die sechs tauschen die Kleider und verwandeln sich rückstandslos in den jeweils anderen: Kleider machen Leute. Der harmonische, choralartige Chor im Publikum wird abgelöst von einem aggressiv klingenden Marsch einer Neonazi-Truppe; ein Schwarzer wird zusammengeschlagen. Eine tolle Samba-Travestie mündet in eine Szene mit bewaffneten Wachsoldaten und mag auf die Situation in manchem Dritte-Welt-Land hinweisen. In einen fröhlichen Tanz offenbar von allen Sorgen erlöster Nackter bricht ein Flüchtlings-Treck ein - auch diese Menschen sind nackt, aber aus Armut und Mangel an Hilfe durch die Staaten der Wohlstandsgesellschaft.

Die Aufführung bietet grandioses, bisweilen surreales Bildertheater voller Magie. Sie entwickelt eine merkwürdige, manchmal durchaus schmerzhafte Form von Poesie, aber sie steckt auch voller Witz und Melancholie, voller Sehnsucht und Schönheit. War man bei Jürgen Gosch noch geneigt, die Aufführung unzweifelhaft dem Schauspiel zuzuordnen, so wirkt die Arbeit von Ojasoo und Semper wie eine große Choreografie in der Tradition von Pina Bausch und ihren Nachfolgern. Mit ihren chorischen Momenten ist sie ein gelungenes Crossover-Projekt aus Tanz- und Musiktheater und Bildender Kunst. Nicht von ungefähr wurde die Aufführung in der knapp 50köpfigen Gruppe von theater:pur-Lesern, mit denen der Rezensent die Aufführung besuchte, vor allem von denjenigen Zuschauern goutiert, die ein starkes Fundament im Bereich der Bildenden Kunst hatten. Die Assoziationen der Zuschauer reichten von Renaissance-Künstlern wie Hieronymus Bosch bis zu den Körper-Installationen des amerikanischen Fotografen Spencer Tunick. Die Bilder umspannen Jahrhunderte, und so ist es nicht verwunderlich, dass der hypothetische Regisseur sich gegen Ende als jugendlicher Held in seinen Regie-Stuhl setzt und nach wenigen Minuten als alter Mann wieder erhebt. Es erhob sich auch ein großer Teil des Publikums zu Standing Ovations; mancher dagegen drehte verständnislos ab: Großes, wenngleich polarisierendes Theater.