Die Wiedervereinigung der beiden Koreas im Recklinghausen Ruhrfestspiele

Verliebte und Verrückte

„La Divorce / Bergman“ heißt die erste von 20 Szenen an diesem Abend, und sie ist, wie vielleicht das ganze Stück, Joël Pommerats Hommage an Ingmar Bergman. Nicht Szenen einer Ehe hat er geschrieben, sondern kurze Stücke über die Liebe, besser: darüber wie man sie trotz aller Bemühungen verfehlt. Die Liebe kennt keine gesellschaftlichen Schranken: Sie ereilt die Putzfrau ebenso wie den Manager, den Banker ebenso wie die Prostituierte. Und glücklich macht sie genau so wenig wie Geld - auch das gilt für all diese gesellschaftlichen Gruppen gleichermaßen. Denn hat man sich einmal missverstanden, hat man sich einmal auseinandergelebt, dann ist das Reparieren einer beschädigten Liebe so schwierig wie die Wiedervereinigung der beiden Koreas.

„Wie lange waren Sie verheiratet?“, fragt die Scheidungsanwältin aus dem Publikum. „Zwanzig Jahre“, antwortet die Frau von der Bühne. Ihr Mann war kein schlechter Ehemann, vor allem war er ein ausgezeichneter Vater. Es gab gemeinsame Interessen, aber: „Es gibt keine Liebe zwischen uns“, sagt die Frau. „Es hat sie nie gegeben.“ Man blieb zusammen, noch fünfzehn Jahre nach der ersten Aussprache. Bis dass die Kinder aus dem Haus waren. Jetzt steht die Frau vor der Scheidung. Sie erzählt von einem Schicksal, wie es Tausende von uns ereilt. Wie bei den meisten dieser Tausende hat die Situation etwas Ratloses, etwas Verlorenes. Bei wenigen wird sie etwas so Melancholisches haben, etwas … man traut sich kaum, es zu schreiben: etwas so Schönes. L’espoir, c’est de la lumière / et l’amour, c’est une liqueur / … / Mets ces trésors, ma très chère, / au plus profond de ton coeur: Josefin Platt singt, ganz in Schwarz gekleidet, zum Schluss der Auftakt-Szene das vertonte Gedicht von Nérée Beauchemin.

Diese erste Szene eines 200 Minuten langen Abends setzt den Ton, der mit geringfügigen Variationen für alle zwanzig Miniaturen gilt, die Pommerat, ein Shooting Star der zeitgenössischen französischen Dramatik, geschrieben hat und die Oliver Reese in einer Koproduktion mit dem Schauspiel Frankfurt bei den Ruhrfestspielen Recklinghausen zur Deutschen Erstaufführung bringt. Corinna Kirchhoff gibt eine völlig normale Frau von heute, allerdings mit einer ans Herz gehenden Aura von Einsamkeit und Verlorenheit, und die Geschichte, die sie erzählt, ist alltäglich und doch irgendwie verrückt. Kaum ein Adjektiv kommt so häufig vor in diesen 20 Geschichten wie das Wort „verrückt“: „Verrückt“ erscheint es dem jungen, attraktiven Mann des Marc Oliver Schulze, wenn seine Partnerin Murielle (Verena Bukal) von jetzt auf gleich mit dem nach fünfzehn Jahren aus dem Nichts auftauchenden, angeblich längst verstorbenen Freund aus Kindertagen verschwindet. Am Ende wird Murielle allein zurückbleiben. Ebenso „verrückt“ erscheint Verena Bukal ihrer lesbischen Partnerin Franzsika Junge, wenn sie ihr eine handfeste körperliche Auseinandersetzung um die Rückgabe des „Teils von mir, das in dir ist“ liefert  „Sie ist verrückt“ heißt es über Caroline (Carina Zichner), die auf dem Standesamt vom Bräutigam ihrer Schwester (Till Weinheimer) einen Beweis dafür fordert, dass dieser seine Braut Christelle (Franziska Junge) mehr liebt als sie. Zum Schluss der wunderhübschen, schwebend leichten Miniatur haben Caroline und Christelle erfahren, dass der Bräutigam mit allen fünf Schwestern ein kleines Techtelmechtel hatte. Aber: Hat er sie nur geküsst ou a-t-il les baisé? In den letzten Minuten vor der Trauung werden alle Gewissheiten in Frage gestellt; der Standesbeamte wird wohl vergeblich warten. Ist Franziska Junge wirklich nur „verrückt“, wenn sie glaubt, ihr Chef habe sie im Schlaf missbraucht? Der hatte ihr offenbar zuvor zarte Avancen gemacht, aber nun, da die junge Frau behauptet, der Gedanke an den Missbrauch sei ihr keineswegs unangenehm, ergreift Thomas Huber emotional die Flucht.

Doch nicht nur die Menschen scheinen - oft nur ganz leicht - verrückt, auch die Szenen sind es: Da sitzt die Putzfrau im Kreise ihrer Kolleginnen und träumt von der Rückkehr ihres Partners, von dem sie sich vor einem Tag getrennt hat. Die anderen schweigen betreten - über der einsamen Träumerin schweben die Beine des verlassenen Mannes, der sich in der Fabrikhalle aufgehängt hat. Da ist die Prostituierte, die seit zwei Jahren von einem ihrer Freier kein Geld mehr genommen hat. Als dieser ihr nun erklärt, dass er sie nicht mehr besuchen wird, weil er eine feste Beziehung eingegangen ist, verlangt sie ihm ein gemeinsames Abendessen ab: an jedem Abend außer an den Wochenenden und in den Schulferien. Pommerats hat Szenen voller schwarzem Humor oder absurder Komik geschrieben, komödiantisch und bittersüß - schwebend leichte Komödien ohne Hoffnung und sehnsuchtsvolle, leicht surreale Tragödien voller Zärtlichkeit. Fast immer unaufgeregt, in einem moderaten Parlando werden Lebensträume zerstört, geraten sichere Beziehungsgefüge ins Wanken und schimmern verpasste Gelegenheiten auf, deren sternschnuppenartige Wiederkehr den Figuren den Boden unter den Füßen wegzieht. Die Ehe von Josefin Platt und Thomas Huber mag in Routine erstarrt sein, aber sie funktioniert noch. Da taucht wie eine Erscheinung Konstantin auf, der Ex-Mann der Frau, der vor zehn Jahren die gemeinsame Wohnung verlasen hat, um nachzuholen, was er damals vergessen hat: „Auf Wiedersehen“ zu sagen. Und fort ist er wieder - mit dem Schlüssel, der auch nach zehn Jahren noch passt. Was wird das mit der Ehe von Platt und Huber machen?  

Im zweiten Teil werden die Szenen düsterer; das Komödiantische wird zurückgedrängt. Es ist, als kämen George und Martha aus „Wer hat Angst vor Virginia Woolf …?“ nach einer Party heim: Peter Schröder und Corinna Kirchhoff erkundigen sich beim Babysitter (erneut Verena Bukal) nach den Kindern - doch die sind verschwunden. Kirchhoff windet sich verzweifelt am Boden, Schröder schreit den Babysitter an und fasst seiner Frau an die Titten, doch: Es hat die Kinder nie gegeben. Sie dienen der Aufrechterhaltung der Fiktion einer Familie. Die anfängliche Komödie wird zum Horror - es ist die großartigste Szene des 20teiligen Abends. An dem eine Schwerstbehinderte auf der Austragung ihres Kindes von einem noch schwerer behinderten Verbrecher bestehen wird, denn: „Aus Liebe wird alles gut.“ An dem ein Elternpaar die Existenz eines jungen Internatslehrer zerstören wird, weil dieser den Sohn Antoine zu dessen Schutz in seinem Bett hat schlafen lassen, an dem Nachbarin und Nachbar das Radio immer lauter drehen werden, um die Fick-Geräusche ihrer jeweiligen Partner zu übertönen, auf die sie seit Stunden warten, an dem eine verblühte Prostituierte einem Mann ihre Dienste aufdrängt, bis er zum Nulltarif mit ihr schläft, an dem die Sorge um ein Kind eine Ehe zerbrechen lässt. Herzergreifend, voller Zärtlichkeit und Trauer ist die Szene mit Corinna Kirchhoff als dementer Gattin von Till Weinheimer - sie erkennt ihn nicht, aber ab und zu schlafen die beiden noch miteinander. Eine ferne, erneut bittersüße Erinnerung an glückliche Tage.

Oliver Reese setzt diesen höchst poetischen, traurig komödiantischen Reigen um verpasste Liebe mit großer Sensibilität und feinem Gespür für die Figuren in Szene. Dabei kann er sich auf ein großartiges, vom Star Corinna Kirchhoff bis zur Elevin Carina Zichner ausgesprochen homogenes Ensemble verlassen. Immer wieder strukturieren wunderschöne, tieftraurige französische Chansons die Aufführung, mal von Josefin Platt, mal von Franziska Junge, mal von Carina Zichner so melodisch intoniert, dass man die drei unbedingt einmal in einem Liederabend erleben möchte. In den flirrenden Szenen um Verdrängung und um Missverständnisse, um alltägliche und um absurde Liebes-Unfälle erleben wir die Magie, die die Liebe entwickeln kann, und ihre Fragilität, die sie kaum ein ganzes Leben überleben lässt. Immer leicht überspannt scheinen die Figuren, immer leicht übertrieben die Inszenierung - und doch: All das, was Pommerat in seinen Figuren aufzeigt, erleben wir fast täglich in der Realität. Es sind solche Missverständnisse zwischen Sender und Empfänger, die kontinuierliches Beziehungsglück nahezu unmöglich machen. Und so müssen wir denn ein wenig schlucken, als der Vater der behinderten Schwangeren resümiert: „Schon bei normalen Menschen … ist Liebe nur ein Konzept … Im Leben muss man das Glück bei sich selbst suchen und nicht bei anderen. Vor allem nicht in der Liebe.“