Übrigens …

Common Ground im Stadthalle Mülheim

Gedankenreise in den Bürgerkrieg

Im Zeitraffer ziehen die frühen 90er Jahre des vorigen Jahrhunderts vorbei, beginnend mit der deutschen Wiedervereinigung und abschließend mit dem Ende des jugoslawischen Bürgerkrieges im Jahre 1995. Untermalt von fetziger Popmusik und Videoclips, die auf unzähligen, auf der Bühnenrückwand befestigten Fernsehbildschirmen flimmern, präsentieren uns die sieben Schauspieler ein fröhliches Best Of. Golfkrieg, Naturkatastrophen, Tennisstars. Das Massaker von Srebenica, Basic Instinct im Kino, Demos gegen Milosevic. Die Belagerung von Sarajevo. Immer, immer wieder Kriegsmeldungen, Anschläge und Unfälle. Persönliche Erinnerungen, erste sexuelle Erfahrungen. Der Selbstmord von Kurt Cobain - it’s better to burn out than to fade away. Und brennende Städte im untergehenden Jugoslawien. Es wird gefeiert bei Moslems und orthodoxen Christen; die Schauspielerinnen erinnern sich an ihre Zeit als Disco Queens in Bosnien und Serbien: „Fünf Monate später brach der Krieg aus.“

Es ist ein wilder Cocktail aus privaten, politischen und popkulturellen Informationen, ein immer schneller sich drehender Wirbelsturm im RTL-Show-Format, den die Schauspieler auf uns loslassen, fröhlich, wütend, selbstironisch, mit atemberaubenden Fallhöhen und voller politischer Unkorrektheit. Dann kehrt erstmal Ruhe ein. Stille, nicht um zur Besinnung zu kommen, sondern aus Orientierungslosigkeit. Langsam beginnen die Schauspieler mit dem Wiederaufbau, bringen die unzähligen Kisten, aus denen das Bühnenbild besteht, in eine Ordnung. Im Publikum atmet man erstmals durch.

„Endlich mal Völkermord und Konzentrationslager auf europäischem Boden, und wir Deutschen haben nichts damit zu tun - was für eine Erleichterung!“ hatte Niels Bormann kurz zuvor befunden. Der 42jährige Schauspieler schließt nahtlos an seine Rolle in „Dritte Generation“ an, dem Projekt, mit dem die israelische Theatermacherin Yael Ronen vor sechs Jahren das Verhältnis von Israelis und Palästinensern untersuchte und ihren Ruf als Meisterin des selbstironischen Recherchetheaters begründete. Schauspielerisch hat Bormann seine Auftritte inzwischen perfektioniert, obwohl er bei „Dritte Generation“ stärker noch als im neuen Projekt „Common Ground“ die begriffsstutzigen Kommentare aus der Sicht eines in seiner eigenen Welt gefangenen Deutschen beisteuerte. Wohlmeinend und wissbegierig, aber stets ein bisschen slow in the uptake und frei von jedem Gespür für das, was man fragen und aussprechen kann, tritt er in jedes Fettnäpfchen. Der Zuschauer freut sich und liebt ihn dafür, aber ganz subtil wird der Betrachter auch mit seinen eigenen eventuellen Vorurteilen und politisch inkorrekten Gedanken konfrontiert.  Subtil, aber auf liebenswürdige Weise und bar jeglicher Aggressivität ...

Aggressivität liegt Yael Ronens Inszenierungen fern; politische Korrektheit auch. Ihre Arbeiten haben stets ein politisches Anliegen - das aber liegt eher im Schaffen von Harmonie als in der aggressiven Attacke. Es geht ihr um die Zusammenführung und die Förderung des gegenseitigen Verständnisses von verfeindeten Konfliktparteien, im Suchen nach einem „Common Ground“. Für ihre Recherche zu den nachwirkenden Konflikten des jugoslawischen Bürgerkriegs hat sie ein Ensemble von Schauspielern zusammengestellt, die zwar Profis in ihrem Metier sind, aber bei rimini protokoll problemlos als „Experten des Alltags“ durchgehen würden. Fünf der sieben haben einen ex-jugoslawischen Migrationshintergrund, sind in Serbien, Kroatien oder Bosnien-Herzegowina geboren. Bormann und die Israelin Orit Nahmias sind aus Ronens altem Ensemble übrig geblieben und für die Außensicht auf die kaum durchschaubaren ethnischen Konflikte auf dem Balkan zuständig. Fünf Tage lang ist die Truppe gemeinsam durch Bosnien-Herzegowina gereist, nach Sarajevo, Mostar und Prijedor, einer Mittelstadt im Nordwesten der bosnischen Republika Srpska, in der sich während des Bürgerkrieges eines der von Bormann angesprochenen Konzentrationslager befand. Als sich Jasmina Music und Mateja Meded vor Beginn der Arbeit an der Inszenierung kennenlernten, stellten sie fest, dass beide einmal eine Zeitlang in Prijedor gelebt haben. Mededs Vater hat dort als Aufseher im KZ gearbeitet, Musics Vater ist ebenda inhaftiert gewesen und möglicherweise umgekommen. Das gilt es nun auszuhalten: Gemeinsam besuchen die Tochter des Opfers und die Tochter des Täters den wahrscheinlichen Ort des Verbrechens. Töchter eines Volkes … nein: zweier Völker, von denen man sagt, der Krieg sei nicht vorbei, er gehe in den Köpfen weiter …

Aufrüttelnd auch ist der Monolog des gebürtigen Serben Aleksandar Radenkovic, des einzigen festen Ensemble-Mitglieds des Gorki-Theaters (und in NRW in allerbester Erinnerung als einer der herausragenden ehemaligen jungen Schauspieler am Düsseldorfer Schauspielhaus). Er war Flugbegleiter bei der Lufthansa, er reiste durch die Welt - und in Serbien wurde seine Familie zerbombt. Er verliebte sich, er pflegte seine Frisur, er genoss das Leben - und in Serbien wurde seine Familie zerbombt. Immer wieder, immer lauter, immer verzweifelter bricht es aus ihm heraus: „Meine Familie wurde zerbombt!“ Wut und Schuldgefühle verfolgen ihn heute noch, und im Parkett kämpfen wir zutiefst berührt und nachdenklich gemeinsam mit ihm mit den Tränen. Vernesa Berbo, die älteste im Ensemble, hat den Krieg teilweise in Sarajevo miterlebt, Bilder von Plattenbauten und gesichtslosen Hochhäusern ziehen im Video an uns vorbei: „Sarajevo ljubavi moja“ erklingt, das Liebeslied an die Stadt von Kemal Monteno. Das Lied an die Stadt, in der soviel Geschichte geschrieben wurde: in der Gavrilo Princip mit der Ermordung des österreichischen Thronfolgers Franz Ferdinand den 1. Weltkrieg auslöste, in der die Nationalsozialisten im 2. Weltkrieg eine Schreckensherrschaft errichteten, die stimmungsvolle Olympische Winterspiele und kurze Zeit später eine der schlimmsten Belagerungen der Kriegsgeschichte erlebte.

Doch Yael Ronens Recherche gilt nicht der Geschichte. Sie gilt den Individuen, den seelischen Schäden, die die für einen Außenstehenden kaum begründbaren ethnischen Konflikte ausgelöst haben, den Reaktionen der nachfolgenden Generation und den Möglichkeiten zur Überwindung des Hasses in traumatisierten Familien. Gemeinsame Aktivitäten, der gemeinsame Besuch der Stätten des Krieges, bilaterale und multilaterale Diskussionen, das Zulassen von Gefühlen und das vorurteilsfreie Diskutieren von Vorurteilen tragen zum gegenseitigen Verständnis bei. Die Authentizität der Akteure ist ergreifend, so dass ein „Common Ground“ nicht nur zwischen den Repräsentanten der verschiedenen ex-jugoslawischen Ethnien, sondern auch zwischen den Schauspielern und dem Auditorium gefunden wird; andererseits werden die Schauspielerinnen und Schauspieler geschützt, indem sie teilweise die Rollen tauschen und Texte sprechen, die der Biographie ihrer Kollegen entsprechen.  

Gegenüber dem sechs Jahre alten Projekt „Dritte Generation“ hat sich das Theater von Yael Ronen stark professionalisiert. Die technische Unterstützung durch Videos und Musik ist routinierter und anspruchsvoller geworden, Tempo- Stimmungswechsel erhöhen Wirkung und Unterhaltungswert des Stücks. Auch die Schauspieler haben sich deutlich weiterentwickelt. Geschickt werden deren tragische Geschichten immer wieder durch komödiantische Szenen, durch Späße oder Lieder gebrochen, so dass das anspruchsvolle, düstere  Thema der Inszenierung ausgesprochen unterhaltsam und spannend präsentiert wird. Den Publikumspreis der Mülheimer Theatertage dürfte diese mitreißende Inszenierung schon sicher haben!