Übrigens …

Die Schutzbefohlenen im Stadthalle Mülheim

Flüchtlingen Gehör verschafft

Elfriede Jelinek und Nicolas Stemann - das ist seit dem Jahre 2003 eine der glücklichsten Verbindungen zwischen Dramatiker(in) und Regie, die es in der deutschsprachigen Theaterlandschaft gibt. Das Werk, Babel, die großartige Ulrike Maria Stuart oder die fast noch grandioseren Kontrakte des Kaufmanns - wann immer sich Stemann lustvoll über die beim Lesen schwer konsumierbaren Textflächen der österreichischen Nobelpreisträgerin hermachte und sie rappen, chorisch brüllen oder flüstern ließ, sie verkitschte oder bombastisch aufmotzte - immer gerieten die Aufführungen zu tollem Bildertheater und zu Ereignissen der Performance-Kunst. So war die Erwartung hoch, als wir in Mülheim ein auch zum Berliner Theatertreffen eingeladenes Jelinek-Stück in Stemann-Verfremdung zu Gesicht und Gehör gebracht bekamen. Am Ende musste man konstatieren: Auch in der besten Ehe gibt es trübe Tage. Stemann und Jelinek haben ein drängendes politisches Anliegen mit Nachdruck und Wucht auf die Bühne gebracht, aber unter künstlerischen Gesichtspunkten hat das Sieger-Team diesmal eine Niete gezogen. 

Ursprünglich hatte Elfriede Jelinek ihren Text Die Schutzbefohlenen als Reaktion auf die Besetzung der Wiener Votivkirche durch pakistanische Flüchtlinge geschrieben. Diese hatten im Herbst 2012 ihr Flüchtlingslager in Traiskirchen verlassen und waren in die großartige neogotische Kirche unweit des Wiener Burgtheaters gezogen, um endgültiges Bleiberecht zu erzwingen. Ein Jahr später kenterte in Sichtweite der Insel Lampedusa ein alter Kutter mit mehr als 500 Flüchtlingen aus Somalia und Eritrea. Die Katastrophe forderte ca. 360 Todesopfer und veranlasste Jelinek zu einer Überarbeitung ihres ursprünglichen Textes, der die beiden Ereignisse mit Motiven aus Aischylos‘ Die Schutzflehenden verknüpft. (In Aischylos‘ frühem Asylanten-Drama fliehen danaische Jungfrauen in den Tempel von Argos, um der Zwangsverheiratung zu entgehen.)  Nicolas Stemann ließ in seiner Uraufführung beim Festival Theater der Welt in Mannheim einen Flüchtlingschor aus Mannheimer Asylbewerbern auftreten; mittlerweile hat deren Platz die sogenannte Hamburger „Lampedusa-Gruppe“ eingenommen - Flüchtlinge auch sie, die seit Jahren für ein Bleiberecht in Hamburg kämpfen und streng genommen illegal zum Mülheimer Gastspiel mitreisten, da sie nach den gültigen Gesetzen den Raum Hamburg nicht verlassen dürfen.

 „We are here. Wir leben. Hauptsache, wir leben, und viel mehr ist es auch nicht nach Verlassen der … Heimat. Keiner schaut gnädig herab auf unseren Zug, aber herabschauen tun sie schon.“ Treffend und mit einem typisch Jelinek’schen Wortspiel setzt - zunächst noch aus dem Off - der Chor der Flüchtlinge den Ton. Sichtbar zu werden, Akzeptanz zu finden, ist das wesentliche Anliegen der Asylbewerber und dieses Stemann-Abends. Die Flüchtlinge flehen um Gehör, betteln in dieser Sprache, die wir nicht kennen …, die Sie aber beherrschen wie sich selbst, außer Sie stehen an einer Bahnsteigkante und sehen uns“, um das Interesse von uns Wegsehenden an ihrem Schicksal. Es sind diese Jelinek-Sprachspiele, die wir so schätzen und die auch ihre kolportagehaftesten Texte noch hörenswert machen. Leider gelingt es dem Team zu selten, die Fallhöhen in Jelineks Text tatsächlich zum Klingen zu bringen, obwohl die Melange aus Klagegesang, Bittstellertext und Anklage zum überwiegenden Teil von den professionellen Schauspielern des Thalia-Theaters gesprochen wird. Zu Beginn lesen sie vom Blatt und machen so ihre Rolle als Stellvertreter der Flüchtlinge deutlich. Doch verlieren sie dadurch das Interesse des Zuschauers an einem Text, der zwar keine neuen Erkenntnisse bringt, der aber wütend und emotional ist - und lange Zeit über viel zu blass dargeboten wird. Besser schon gelingen die antikisierenden Passagen mit ihrem Pathos und ihren Inversionen - sie erhalten Rhythmus und eine dunkle Klangfarbe und fesseln die Aufmerksamkeit des Zuschauers.

Natürlich ist die Rezeption des Abends auch eine Frage der Erwartungshaltung. Wer Stemanns Großtaten mit Ulrike Maria Stuart oder Die Kontrakte des Kaufmanns nicht kennt, wird beeindruckt sein von den Bilderfindungen und den musikalischen Einlagen in dieser Inszenierung. Wer Jelinek-Texte nicht kennt, wird seine Freude haben an einigen bitterbösen Kalauern: Auch die Familienzusammenführung ist ja bei sogenannten „Illegalen“ nicht möglich und selbst bei legalen Nicht-EU-Ausländern äußerst schwierig. „Lasset die Kindlein zu mir kommen“, intonieren die Flüchtlinge, „notfalls ins Meer, denn dort ist ja noch Platz.“ Videos flimmern dazu über die Bühnenrückwand, auf denen Gesichter unter Wasser zu sehen sind, Gesichter von Ertrinkenden. Das ist böse, das trifft ins Herz. Integrationsbroschüren regnen vom Himmel, Grundgesetztexte und Menschenrechtsbegriffe werden diskutiert - und dazu sehen wir harmonische Videobilder, Werbe-Clips über ein glückliches, gut betreutes Leben im Alter oder im Behindertenheim. Für die inzwischen auf der Bühne anwesenden ärmlichen Flüchtlinge ist das der Hohn auf Socken - die Bilder sind komplementär zu Jelineks ironischem, oft bitterbösem Sprachwitz. Stemann hat eine Umfrage bei Bewohnern des Hamburger Luxusviertels Pöseldorf zur Aufnahme von Flüchtlingen in ihrem Vorort in den Text montiert - die Antworten könnten auch aus einer Sendung des begnadeten französischen Komikers Alfons stammen, nur sind sie in diesem Zusammenhang weniger lustig. Ein tolles, sarkastisch wirkendes Freiheits-Lied kulminiert im Tanz der Flüchtlingsgruppe - und schwupps, sehen wir diese zu wehenden EU-Fahnen hinter den Gittern der Frontex-Lager. Gegen Ende schwenken einige Schauspieler mit Taschenlampen von oben ins Parkett - es sind die Suchscheinwerfer der Rettungsschiffe; wir Zuschauer bilden das im Meer treibende Heer der Flüchtlinge.   

Nicht alle Bilder sind so stark. Von einer Art Kanzel mit einem christlichen Kreuz wird ein Lied gesungen: „Komm aufs Fundament der Werte …“ - nun ja, das spielt wohl auf das Thema Assimilation versus Integration an, auf die von manchen Menschen erhobene fragwürdige Forderung an die Migranten nach vollständiger Aufgabe der eigenen kulturellen Werte. Aber grundsätzlich ist der Wunsch nach einem gemeinsamen Wertefundament ja nicht abzulehnen. Es wird wieder kräftig Blackfacing und Whitefacing betrieben - das ist im Moment eine Lieblingsbeschäftigung des deutschen Theaters, und man muss aufpassen, dass sich dieses durchschaubare Spiel nicht abnutzt. - Alles ist furchtbar gut gemeint, aber nicht alles ist künstlerisch gut gemacht. Trotz der meist überzeugenden Live-Musik von Daniel Regenberg und der passgenauen Videoclips wirkt die künstlerische Einrichtung der Inszenierung manches Mal etwas amateurish, und wieder und wieder fragt man sich, was an dieser Inszenierung und an diesem Text noch Kunst ist und was Agitprop.

 „More art, less matter!“, seufzte der Rezensent, doch letztlich muss man akzeptieren, dass der Regisseur exakt den gegenteiligen Ansatz hatte und dazu auch selbstbewusst steht. Als einen der wichtigsten Bestandteile der Inszenierung sieht er das an, was nach dem Schlusspfiff kommt: Nach jeder Aufführung diskutieren die Schauspieler, Mitglieder der Flüchtlingsgruppe sowie wechselnde Experten aus der politischen Szene, aus dem Beamtenapparat oder von Hilfsorganisationen mit dem Publikum über die die Dilemmata der Betroffenen und der deutschen und europäischen Flüchtlingspolitik. So ist es denn das Theater als moralische Anstalt, das Theater als aufrüttelnder Akteur in der Polit-Szene, das dem Team am Herzen liegt. Stemann spricht davon, auch „das Scheitern zum Gegenstand der Inszenierung machen“ zu wollen: nicht nur das kaum vermeidbare Scheitern der Flüchtlingspolitik, sondern auch das der Inszenierung, die den kaum Deutsch sprechenden Asylanten die Gelegenheit zum persönlichen Auftritt geben wolle und die Fallen, die schon Jelineks Stück aufweise, offensiv ausspiele.

Von Stemanns Absichten scheint also vieles gelungen zu sein. Insofern halten wir uns besser mit der Kritik zurück. Wie hatte Barbara Nüsse schon mit einem der bösen Jelinek-Sätze gesagt: „Ja, wissen Sie: Gäste versorgt man ja gerne. Also - eingeladene!“ Und Stemanns oft so großartige Aufführungen laden wir immer gerne ein.