Was nutzt die Wahrheit, wenn man sie nicht glaubt
Es ist der letzte Abend der Mülheimer Theatertage. Plötzlich wird es stockdunkel im Saal.
Dunkel
kein Licht
eine Frau atmet
und atmet
und atmet
und
So steht’s in der Regieanweisung.
Endlich hebt sich der Vorhang, Neonröhren flackern auf, grell und irritierend, dann wieder Dunkelheit. Ein zweiter Vorhang hebt sich, zuckendes Licht lässt uns kurz einen Bühnen-Käfig erkennen, auf dem Boden grabhügelgleich schwarze Erdhaufen, ein Sessel, ein Tisch, eine Greisin, eine junge Frau – wieder Dunkelheit – alle Vorhänge zu und wieder auf und wieder zu – Licht an.
„Wenn ick mal tot bin“ erklingt, ein Lied aus dem Zyklus Lieder eines armen Mädchens von Friedrich Hollaender. Gegen Ende werden wir es wieder hören.
Vier Figuren erscheinen in weißen Rüschenkleidern vor dem Vorhang - wie Puppen aus der Ecke eines Biedermeiersofas. Diese „4 Schwestern, die Hundsmäuligen“ werden uns als seltsam entrückte, abstrakte Kunstfiguren in verschiedenen Gestalten und Retro-Kostümen durch das Stück begleiten: mal als Chor kommentierend und informierend, mal als Rachegöttinnen, ganz bewusst den Erinnyen des Atriden-Mythos’ nachempfunden, und - wie diese einst - beschwörend göttliches und irdisches Recht einfordernd. Dabei wechseln Erzählperspektiven und Zeitebenen in schnellem, nicht immer nachvollziehbarem Rhythmus, so dass Raum und Zeit verschwimmen und unklar bleibt, wo wir uns gerade befinden: in der Antike, der Gegenwart, in den letzten Tagen des Naziregimes oder im Jahr darauf? Geht es dem Richter um Denunziation oder Desertion, oder genauer: um vermutlich beabsichtigte Desertion? Zitiert der Chor die Gedanken der Alten oder der Jungen? Denken sie es jetzt oder einst? Sind wir im Krankenhaus, im Gefängnis, im Gericht, in der Küche, auf dem Friedhof? Dabei wird dieses Kaleidoskop aus Gedanken-, Handlungs- und Erinnerungsbruchstücken in einer hochartifiziellen verknappten Sprache präsentiert, die in rhythmischen Versen freien Jamben folgt - wie gewohnt bei Palmetshofer, ohne Punkt und Komma. Da atmet man auf, wenn nach gut einer Stunde in einer aufklärenden Dialogszene die Geschichte geordnet erzählt wird.
Es handelt sich „um eine reine Weibergeschichte“, der ein authentischer Fall aus der Mühlviertler-Gemeinde Mönchdorf in Oberösterreich, dem Heimatdorf des Autors, zugrunde liegt: In den letzen Tagen des Zweiten Weltkrieges – Wien war schon seit neun Tagen befreit! - belauscht eine junge Frau im Postamt ein Telefonat, in dem ein junger Soldat seinem Vater gegenüber meint, er könne doch „abhau’n“, da der Krieg zu Ende gehe. Die Frau denunziert ihn und der Soldat wird am 26. April 1945 wegen „beabsichtigter Desertion“ standrechtlich erschossen. Im Rahmen der Verfolgung von Naziverbrechen wird die Denunziantin am 23.September 1945 zu 20 Jahren Haft verurteilt.
Im Stück begegnen wir der inzwischen 90jährigen Hauptfigur, ihrer Tochter und ihrer Enkelin. Die Alte musste nach einem Zusammenbruch in ein Krankenhaus eingeliefert werden und jetzt verschwimmen ihre Erinnerungen an Haft und Tribunal mit den Spitalerlebnissen. Doch weder das Erinnern noch das eindringliche Fragen der Enkelin vermögen die „Altnazisse“ in ihrer Starre zu erreichen: eiskalt, dümmlich, störrisch und ohne Reue leugnet sie, um die Konsequenzen ihrer Tat gewusst zu haben. Unerbittlich häkelt sie an der Schnur, mit der sie sich letztendlich erhängen wird, während die Tochter, die Mittlere, in der Rolle der Elektra erstarrt: „ich bin Elektra… ich verbrenne meine Herkunft meine Abkunft meine Abstammung meinen Stamm den Mutterstamm“.
Ewald Palmetshofer wagt es, eine österreichische Geschichte von Schuld und Vergangenheitsbewältigung im schuldbeladenen Atriden-Geschlecht zu spiegeln. Dabei überlässt er es allerdings der Einbildungskraft des Zuschauers, die blutigen Fantasien des Monologs der heutigen Elektra zu bebildern und zu entscheiden, ob die Assoziationen tragfähig sind. Einige Spuren stimmen zweifellos überein mit dem archaischen Vorbild in den antiken Dramen des Sophokles und Euripides, so etwa die das eigene Leben erstickenden, übermächtigen Gefühle von Zorn und Rache der Mörderinnen-Tochter. Doch wenn auch ein Eimer Theater-Blut fließt, zum Muttermord kommt es nicht. Dazu fehlen zum einen das Götter-Gesetz der Blutrache als Begründung der Tat und zum anderen der ausführende Bruder, denn Männer kommen in diesem Stück nicht vor, es sei denn am vagen, verblassten Erinnerungshorizont.
Robert Borgmann, als Regisseur und Bühnenbildner Burg-Debütant, hätte zweifellos in beiden Bereichen im ersten Teil etwas straffen können. So mussten die gelegentlich ins Clowneske ausgreifenden Auftritte der Vier Schwestern nicht in aller Ausführlichkeit bis zur Langatmigkeit ausgespielt werden. Hinreißend dagegen die Besetzung der drei Hauptfiguren mit Elisabeth Orth als die Alte, eine der immer wieder begeisternden Grandes Dames der Bühne, die auch, wenn sie kein Wort spricht, in jeder Szene mit ihrem Charisma fasziniert. Als die Mittlere überzeugt Christiane von Poelnitz sowohl in der Rolle der Tochter, meist bedrohlich mit einem Beil in den Händen, als auch als Elektra. Als Vertreterin der dritten Generation kann Stefanie Reinsperger, die erst in dieser Spielzeit von Düsseldorf zur Burg wechselte, ihr rasantes Temperament als die Junge ausspielen und dabei als verlorene Seele mal mit dem Akkordeon vor der Brust, mal sich im Dreck wälzend, verzweifelt auf der Suche nach Glück und Orientierung, die Herzen der Zuschauer gewinnen.
In dem anschließenden Publikumsgespräch gewährte Palmetshofer interessante Einblicke in seine Schreibwerkstatt. So begründete er die höchstpoetische Sprachform, die sich in diesem Stück durch Reduzierung, Verdichtung, sowie Verknappung bis zur Verarmung, weit von jeglicher Alltagssprache entfernt und durch Blankverse und Jamben verkünstlicht, mit dem vorgefundenen Aktenmaterial. Die von ihm benutzten österreichischen Gerichtsprotokolle wurden als äußerst gestraffte Ergebnisprotokolle erstellt. Das bedeutet, dass keinerlei Originalton vorkommt, die Geschehnisse vielmehr paraphrasierend, gegebenenfalls in indirekter Rede in Amtssprache übertragen, archiviert wurden. Diese amtlich verknappten Texte inspirierten ihn demnach zu seiner artifiziellen Kunstsprache.
Interessant sind diese Einblicke auch deshalb, weil die Begründung der Juroren, die Palmetshofer den Dramatikerpreis einbrachte, gerade die große Kunstfertigkeit in Sprache und Aufbau des Stückes betonte. Es war nicht zuletzt die Kongruenz von Kunstsprache und Sprachkunstwerk, die zur Auslobung des Preises führte. Da könnte man vermuten, dass die Informationen des Autors in die Voten der Juroren hineinwirkten. Ganz sicher aber waren viele Zuhörer mit der Preisvergabe einverstanden. Ich persönlich hätte ihn an Common Ground von Ronen & Ensemble gegeben und damit war ich nicht allein, denn sie erhielten den Publikumspreis.