Wer ist das Volk?
Über die fast leere Bühne im Ringlokschuppen zieht sich ein Wall aus scheinbar harmlosen Schnitzeln oder Spänen - beim genauen Hinsehen sind es jedoch Streichhölzer: unzählige Zündhölzer, ein Funke würde genügen… Die Spur ist gelegt, doch heute wird nicht gezündelt.
Sechs unauffällig schwarz gekleidete Figuren treten auf - drei Frauen und drei Männer – und bieten dicht gedrängt mit sprachlicher Schärfe und dokumentarischer Genauigkeit eine mitreißende Szenencollage zu Gewalt, Rassismus und rechtem Denken in unserer Gesellschaft. In schnellem Wechsel zwischen kurzen, eindringlichen Spielszenen, Kurzkommentaren, einem angedeuteten Radiofeature, Zeitungsmeldungen und Augenzeugenberichten montiert Dirk Laucke ein Zeitdokument, das nicht nur vom dumpfen braunen Gedankengut und den hasserfüllten Aktivitäten der Neonazis handelt, sondern auch von der mangelnden Zivilcourage einer schweigenden Mehrheit, die allzu bereitwillig wegschaut und alles gewähren lässt.
Das alles fußt auf Materialien und Ereignissen aus den Jahren 2007 bis 2013, die der Autor detailgenau beobachtete, gründlich recherchierte, sammelte, zu eindrucksvollen Szenen verdichtete und schließlich zu einem Stück zusammenfügte. Dabei geht es ihm nicht um gerichtsverwertbare, spektakuläre Ausschreitungen, die den Weg in die Nachrichten schaffen, sondern im Gegenteil um die geistigen Vorstufen, das schmuddelige Umfeld einer Tat. So brechen im Stück viele Szenen ab, bevor es zur Eskalation, zur Entscheidung kommt. Laucke bietet dem Zuschauer nicht Lösungen, sondern Anstöße zum Mit- und Weiterdenken. Dabei schafft er aus der Berichtslage heraus immer wieder Textpassagen von poetischer Dichte und Figuren von anrührender Präsenz, die unser Mitgefühl und ganz neue Assoziationsebenen ermöglichen.
Andererseits verlangt uns das Stück hohe Aufmerksamkeit ab. Da sind zunächst die Szenenwechsel, die zugleich Ortswechsel bedeuten: Zwischen Bayern und der Uckermark, zwischen Halle, Freiburg, Regensburg und Ostfriesland, zwischen einem Biobauernhof, einer Flughafenhalle und einem Kinderspielplatz wechseln die Spielorte. (Netterweise werden die Regieanweisungen mitgesprochen, so dass wir immer wissen, wann und wo die Handlung gerade spielt.) Die Aussage ist klar: In Ost und West, in Nord und Süd, überall findet sich rechtes Gedankengut – und zwar in allen Schichten, nicht nur an den Rändern der Gesellschaft. Mit großer Geschwindigkeit, Professionalität und Kunstfertigkeit wechseln die Spieler dabei ihre Rollen, ihre Kostüme und gelegentlich auch ihr Geschlecht und nicht zu überhören: ihren Sprachstil. Der schwankt zwischen dem gepflegtem Mittelstands-Deutsch eines streitenden Ehepaares, gehobener Intellektuellensprache einer Journalistin, Bäuerlich-Bayrisch und - besonders eindrucksvoll - dem Proletensprech aus Halle-Silberhöhe. Da wird es dann in einigen Szenen so prollig, dass man beim Lesen glaubt, in eine Fremdsprache geraten zu sein, denn der Autor schreibt so, wie es sich anhören soll.
Trotz all der Wechsel gibt es einige durchgehende Handlungs- und Erzählstränge, die in den unterschiedlichen Episoden immer wieder aufgenommen werden, dem Werk Struktur geben und unserer Empathie wiedererkennbare Figuren bieten. Da ist gleich in der ersten Szene das streitende Ehepaar, Meret und der Lehrer Karl, der durch sein Verhalten der Polizei einen abzuschiebenden Afrikaner verrät und sich feige wegduckt mit der Frage: „Warum tun denn all die anderen Leute nichts?“ In einer späteren Szene erfahren wir, dass die Tochter der beiden zur Neonazi-Szene gehört und möglicherweise mitschuldig ist am Tod eines Armeniers. Wieder schafft Karl es nicht, Stellung zu beziehen, jetzt nicht und auch in späteren Situationen im Schulleben nicht.
Eine andere Figur, die wir durch das Stück begleiten, ist der junge Danny, Mitglied der Neonaziszene, aber offensichtlich überfordert von der Gewalttätigkeit der Gruppe, als es um die Selbstjustiz gegen einen vermuteten „Kinderficker“ geht. Doch sein Bemühen, sich von den Zwängen der Kumpel zu befreien, misslingt. Der hilflose Versuch, sich seinem eigenen Gefühl folgend einer Studentin zu nähern, scheitert an der Rohheit der anderen, in deren destruktivem Sprach- und Lebensmuster dergleichen Normalität nicht vorkommt.
Ein Beispiel für Vorurteil und Rassismus in öffentlicher Verwaltung und bei Gericht liefert das Schicksal des Romajungen Tomas, dessen Lebensweg durch Einweisungen in die Sonderschule sowie in ein Wohnghetto im Rahmen eines „Sonderförderungsprogramms“ chancenlos vorherbestimmt wird.
Diese und viele andere kleine Geschichten werden von den sechs Darstellern mit großer Intensität und ohne unterschwellige Denunziation mal berichtet, mal - ganz ohne Requisiten – stark und äußerst versiert erspielt. Da stört auch Richard Wagners eingespielter Walkürenritt die hohe Authentizität und Brisanz der Alltagsgeschichten nicht wirklich.
Doch am Schluss des Stückes ändert sich der Ton: Hanna Plaß, die wir zuvor in vielen verschiedenen Rollen so eindrucksvoll sahen, hängt plötzlich in den Steigbügeln eines gewaltigen Backsteinschornsteins und erzählt von oben herab eine anrührende Geschichte von einem israelischen Bademeister und einem Findelkind, das ihn aus der zehnjährigen Erstarrung nach dem Tod seiner Frau erlöst. Diese kleine Erzählung ist, anders als die übrigen Szenen des Stücks, reine Fiktion des Autors, der poetische Schluss eines so politischen, sozialkritischen Stückes. Doch Dirk Laucke entlässt uns nicht nach dieser rührenden Geschichte, sondern holt uns zurück ins Diskussionstheater: Er hat die Geschichte am Rande des Gazastreifens angesiedelt und jetzt wird auf der Bühne gestritten, ob eine so alltägliche, unpolitische Episode auf eine so politisch-sozial-engagierte Bühne gehöre. Ganz gleich, wie der Streit ausgeht: Wir hörten die kleine poetische Geschichte, so wie sie ist: ganz ohne Furcht und Ekel.
Der Titel des Stücks Furcht und Ekel. Das Privatleben glücklicher Leute assoziiert ganz bewusst die großen Vorbilder Bertolt Brecht (Furcht und Elend des Dritten Reiches, 1938) und Franz Xaver Kroetz (Furcht und Hoffnung der BRD, 1984), in deren politisch-künstlerischer Tradition Dirk Laucke sich sieht. In einem Brief an die Dramaturgin des Stücks nennt er es zwar „gewagt“ und „anmaßend“, sich „selber ein Haus zwischen die beiden zu bauen“, doch reklamiert er „eine Parklücke davor“ für sein Werk. In der Tat baut Laucke, geboren 1982 und aufgewachsen in Halle, seit 2006 höchst erfolgreich an dieser „Parklücke“, die nun doch nach einigen hochgelobten Stücken schon wie das Fundament eines eigenen „Hauses“ wirkt. Alle seine Stücke sind bissige Zeitdokumente und er selbst charakterisiert seine Vorstellung von politischem Theater kurz und bündig mit den Worten: „Je desillusionierter, desto besser“.
Da bleibt dem Zuschauer denn doch die Frage nach dem Wirklichkeitsgehalt eines so pessimistischen, einseitigen Blickes auf die Welt, auf das pure Phänomen. Es könnte dazu führen, dass die Hoffnungslosigkeit und Radikalität der Dokumentation letztendlich zu einer gesellschaftlichen Normierung führt, die uns nicht mehr berührt.