Vorgewärmtes Klopapier
Der Herr badet gerne lau? Bitte sehr, das ist doch selbstverständlich. Heiß und kalt gibt’s längst nicht mehr in Rebekka Kricheldorfs schöner neuer Welt, alle Kanten sind abgeschliffen, und selbstbewusstes Konfliktverhalten war vorgestern. Erinnerungen an zynische Zuchtmeister à la Herbert Wehner oder andere Übelkrähen sind rückstandslos getilgt; Laubadende sind die Helden der neuen Epoche. Sogar das Klopapier ist vorgewärmt. Das so wohl nicht mehr heißt - unschöne Gedanken assoziierende Begriffe sind längst aus der Sprache getilgt; das Klohäuschen heißt Hygienezentrum und ist mit einer automatischen Exkrement-Analyse-Maschine ausgestattet. Renate Künasts Veggie Day ist ebenfalls Schnee von gestern: Man führt ein ganzheitliches Veggie Life, in dem ordentliche Frikos mit Pommes Rot-Weiß höchstens noch als grausliche Erinnerung an barbarische Zeiten existieren. In der Mensa gibt’s längst sieben Tage in der Woche der Volksgesundheit zuträgliche Delikatessen wie Salbeitofu oder Quinoa-Quiche. Das AGG ist überflüssig geworden: Gender- und Altersdiskriminierung gehören im privaten wie im beruflichen Bereich der Vergangenheit an. „Geschlecht ist privat“, liiert ist man nicht mehr mit Mann oder Frau, Freund oder Freundin, sondern mit seinem Mensch, das vielleicht ein Studierendes oder ein Schauspielendes ist oder wie das Unterzeichnende ein Schreibendes.
Körperliches Verlangen, ja: sogar Sex gibt es durchaus noch zwischen den Geschlechtern, und zwar ganz öffentlich, aber ohne Herzschmerz, Suchtcharakter, Übergriffigkeit, Kampf um Dominanz oder was die Liebe in unseren Tagen sonst noch an Komplikationen mit sich bringt. Ist Mensch Pat noch nicht bereit zum Fick, reagiert Mensch Luca mit großzügiger Eleganz: „Die Andersartigkeit meiner Anatomie und meiner Bedürfnisse ist nicht zwingend etwas uns Trennendes.“ Pat stellt fest: „Die Einsicht in deine von der meinen abweichenden Begehrensstruktur lässt mich etwas empfinden, was man vielleicht als ungerecht bezeichnen könnte.“ Glücklich holt sich Luca stattdessen einen runter, und die alte Camille guckt hocherfreut zu - Verzeihung: sie ist natürlich nicht die Alte, sondern das Längerlebende, im Gegensatz zu den Kürzerlebenden der nachfolgenden Generation. - Rausschmeißen geht übrigens auch noch: die private Beziehung geht auseinander, weil man sich „emotional auserzählt“ hat, und wer aus dem Job fliegt, hat „spontan die Chance zur Neuorientierung erhalten“. Was gar nicht so weit von den heutigen Formulierungen entfernt ist, mit denen die Presseabteilungen der Unternehmen den unfreiwilligen Abschied verdienter Manager schönreden. – Geht es einem in dieser heilen Welt dennoch dreckig, geht man zu Doktor Osho, dem „Wegsprechenden“ - das Psychiater bringt dem sich hässlich fühlenden Mensch dann bei, dass es vielleicht einer „Attraktivitäts-Differenz-Chimäre“ aufgesessen ist. Auch wenn der perfekt auf wohlklingende Aussagen getrimmten Welt noch nie was Positiveres eingefallen ist als dass der unscheinbare Chris „sehr schöne Augen“ hat. Benedikt Kauff spielt in der Aufführung des Deutschen Theaters Göttingen den bedauernswerten, an seiner negativen Attraktivitätsdifferenz leidenden Kürzerlebenden übrigens so anrührend, dass das Publikum geschlossen zu Homines Empathicas mutiert.
Kauff kann sich in dieser Aufführung übrigens auf sage und schreibe 25 weitere Kollegen stützen. Denn Rebekka Kricheldorfs visionäres Gesellschaftspanorama ist eine Auftragsarbeit zum Auftakt der neuen Intendanz von Erich Sidler am Deutschen Theater Göttingen, und Teil des Auftrags war, sämtlichen Mitgliedern des Ensembles zu einem Auftritt zu verhelfen, um die Neuen vorzustellen und das Teambuilding mit den aus dem alten Ensemble von Mark Zurmühle übernommenen Schauspielern zu beschleunigen. Der kühne Plan ist gelungen: Das gut aufgelegte Ensemble wirkt ausgesprochen homogen, und kein Mensch könnte erkennen, wer bereits längerlebender Göttinger und wer neu in der Stadt ist. Und die mutige, mit einem niemals verletzenden, aber doch spöttischen Humor ausgestattete Dramatikerin begriff ihren Auftrag als Gelegenheit zu einem Experiment, das sie schon länger gereizt hatte: ein Stück zu schreiben, dem genau das fehlt, was normalerweise den Kern eines jeden Dramas ausmacht – nämlich ein Konflikt. „Ein Drama ohne Konflikt – kann man das schreiben, kann der Zuschauer das aushalten?“, beschrieb Kricheldorf ihren Untersuchungsansatz in der Mülheimer Publikumsdiskussion.
Nun, man kann, obwohl sowas wahrscheinlich nicht beliebig wiederholbar wäre. Einen wirklichen Plot hat Kricheldorfs Stück nicht, so dass die Aufführung nach einer Stunde im Ewiggleichen zu versanden droht. Der Schluss, an dem Kricheldorf dann doch einen Kulminationspunkt sucht und die engelgleichen Gutmenschen mit einem gleichermaßen überspitzten Rückblick auf unsere Konflikt-Gesellschaft mitsamt ihren barbarischen Ritualen und Kontrollverlusten konfrontiert werden, wirkt etwas aufgesetzt. Und doch bietet Erich Sidlers Inszenierung mehr als nur eine vergnügliche, unterhaltsame Groteske mit einer eigenwilligen, bisweilen sogar überraschend poetischen Atmosphäre: Sie formuliert auch ein starkes Stück Gesellschaftskritik.
Der Göttinger Dramaturg Matthias Held drückt es recht defensiv aus, wenn er die von Kricheldorf spöttisch beäugte Gutmenschen-Ideologie mit unserer Neigung, „die Dinge immer aseptischer zu betrachten“, umschreibt. Kricheldorf greift unser Bemühen um überzogene political correctness frontal an. Die Welt in „Homo Empathicus“, die Hass, Neid und Konkurrenzdenken scheinbar weit hinter sich gelassen hat, wirkt nicht nur ziemlich abgefahren, sondern gefährlich sektenhaft. Nicht von ungefähr erinnern Veggie Life und Exkrement-Analyse-Maschine an Dystopien wie die Gesundheits-Diktatur in Juli Zehs „Corpus Delicti“. Beim Realitäts-Check erkennen wir erschüttert, wie vieles von dem, was wir hier sehen, bereits in unseren Alltag eingeflossen ist. Die buddhistische Achtsamkeitslehre ist für viele Soziologen das Gebot der Stunde – Kricheldorfs Text und Sidlers Inszenierung haben deren Forderungen und Erkenntnisse nur ganz leicht überhöht. Erschreckender: Die witzigen Überzeichnungen in der Sprache, die Kricheldorf ihren empathischen Menschen mitgibt, gehen nur eine winzige Überdrehung über das Schablonenhafte hinaus, das uns heutige Kommunikations- und Konfliktmanagement-Seminare beizubringen versuchen. Feministische Konzepte einer geschlechtsneutralen Erziehung und des Negierens jedweder angeborener geschlechtsspezifischer Prägung erreichen heute bereits die gleiche Realitätsferne wie die Figuren in „Homo Empathicus“. Und die genderneutrale Anrede kennen wir von der einstigen politischen Hoffnungsträgerin Kristina Schröder, die als Familienministerin ja allen Ernstes „das Gott“ als neue Bezeichnung für unseren potentiellen Schöpfer und Weltenlenker vorschlug, bevor sie ihre unbestrittene, aber reichlich verknotete Hochintelligenz stärker ihrem eigenen Kürzerlebenden zuwandte.
Die Göttinger Schauspieler zitieren mit tänzerischen Einlagen die Choreographie der Eurythmie, des heute noch an einigen Schulen gelehrten anthroposophischen Bewegungskonzepts, das mit seinem „geistig-wesenhaften“ Kitsch manchen mit beiden Beinen im Leben stehenden Realisten wirkungsvoll in die Flucht schlägt. Andererseits weist die Inszenierung in manchen Szenen subtil darauf hin, dass sich auch in einer vollständig egalitären Gesellschaft immer wieder Führerfiguren herauskristallisieren. Kricheldorf wiederum hat sich für ihren Text an einer großen Bandbreite literarischer oder realer Vorbilder orientiert: an Orwells „1984“ und Huxleys „Brave New World“, am Bhagwan-Osho-Kult, an dem feministischen Roman der norwegischen Autorin Gerd Brantenberg „Die Töchter Egalias“ und vielem anderem mehr. Entsprechend erwies sich die Autorin auch in der Mülheimer Publikumsdiskussion als eine intelligente, kenntnisreiche Expertin, die eine Bereicherung für jede Talkshow wäre und deren Spott über jedwede Ideologie sicher vielen im Parkett aus dem Herzen sprach. Für den Mülheimer Dramatikerpreis fehlte dem Stück eine spannendere Entwicklung, aber sehenswert ist die Göttinger Aufführung allemal.