Ein Stück von der Macht und dem Missbrauch der Macht
Der Herzog von Wien beschließt, die Stadt für eine Weile zu verlassen. Sein Stellvertreter Angelo soll die Regierungsgeschäfte übernehmen. Angelo entscheidet, die drastischen Gesetze gegen sexuelle Freizügigkeit, die nicht mehr angewandt wurden, wieder in Kraft zu setzen. So kommt es zur Verurteilung Claudios. Er soll sterben, weil er seine Verlobte Julia noch vor der Vermählung geschwängert hat. Als sich Claudios Schwester Isabella, eine Novizin, für ihren Bruder einsetzt, fordert Angelo sie auf, ihm in Liebesdiensten zu Willen zu sein. Sie weigert sich.
Der Herzog selbst verfolgt, verkleidet als Mönch, all dieses Treiben im Hintergrund. Shakespeare macht sich nicht die Mühe, ihn mit irgendwelchen Motiven für sein Tun auszustatten. Maß für Maß zeigt uns die Macht und den Missbrauch der Macht, den Gegensatz von Sein und Schein, vor allem von Reden und Handeln.
Dan Jemmett entschied sich für eine „Kammerspiel-Version“ des Stückes mit nur vier Schauspielern. Einer, der Herzog Vincentio (Bob Goody gibt perfekt den „dirty old man“), spielt mit den anderen Charakteren. Ort der Handlung: eine Art Beerdigungsinstitut. Treten die Akteure doch aus aufrecht stehenden Särgen auf und verfallen nach ihrem Auftritt scheinbar in eine Totenstarre. Vincentio sitzt auf der rechten Seite der Bühne an einem kleinen Tisch mit einer Flasche Whisky, einer dicken Ausgabe von Shakespeares Werken und einem modernen Hochglanzpornomagazin, in dem er ab und an blättert. Zuweilen legt er Platten von Jim Reeves („Put your sweet lips close to mine“) oder Elvis Presley („Green, green grass of home“) auf. Häufig vor sich hin nuschelnd, schlurft er zu den Särgen und entscheidet, wer wann auftreten darf und wann diese Person auch wieder abtreten muss. Er manipuliert die anderen wie ein Puppenspieler. Alle sind seine Kreaturen, er der Herrscher über die Gerechtigkeit? Oder vielleicht nur ein Gauner und Trickbetrüger?
In Vincentios Reich sind alle moralischen Normen weltlichen oder religiösen Charakters, auf die die Personen sich ausdrücklich oder implizit berufen, entweder heuchlerisch oder bedeutungslos.
Die Darsteller – Isabella: Seonaid Goody; Claudio, Provost, Marianna: Charlotte Palmer; Angelo, Lucio: Jonathan Storey – sind alle hohlwangig und bleich geschminkt. Wie Darsteller in einem Frankenstein-Film. Nur kurz erwachen sie zum Leben für ihre Auftritte. Häufig soll exaltiertes Spiel – gern mit gespreizten Händen, so bei Isabella – starke Emotionen verdeutlichen. Nie ist eindeutig klar, ob wir annähernd die Realität oder ein Spiel im Spiel sehen. Wenn Vincentio dann und wann „bei Shakespeare“ nachschlagen muss, wo die Geschichte steht („Act VI“) und dabei einen herzhaften Schluck nimmt, bricht auch die Darstellungsebene.
Ein interessanter Ansatz, dieses zwar geschätzte, aber nicht unbedingt populäre Werk Shakespeares auf die Bühne zu bringen. Measure for Measure konfrontiert das Publikum mehr als jedes andere Stück Shakespeares mit christlichen Glaubensinhalten und Wertvorstellungen, die gleichzeitig beschworen und in ihrer Verbindlichkeit entwertet werden. Wobei die komödiantischen Elemente in dieser Produktion keineswegs zu kurz kommen.
Eine sehenswerte Sicht auf Shakespeares Parabel über die Zusammenhänge von Machtgier und sexueller Lust, zeigt dieses Drama doch, dass der Machtinhaber ein Staatstyrann ist, solange er seine Triebe unter Kontrolle hat. Gewinnt die Lust die Oberhand, wird er den eigenen Gesetzen gegenüber untreu und ist nur noch auf seine Stellung und Sicherheit bedacht.