Hamlet durchstreift Favelas
„Der Rest ist Schweigen“. Mit Hamlets letzten Worten endet auch eine äußerst ungewöhnliche dramatische Auseinandersetzung der „Companhia Completa Mente Solta“, die sich „mit völlig freiem Geist“ – so die deutsche Übersetzung – dem großen Zauderer aus Dänemark nähert. Doch das Quartett, das die längste Reise zum 25. „Shakespeare-Festival“ im rheinischen Neuss hinter sich hat und erstmals in Deutschland auftrat, will ganz und gar nicht „schweigen“, sondern die Ratlosigkeit, die in dem Zitat des sterbenden Hamlet aufscheint, aufbrechen.
Die Inszenierung, der Márcio Januário seinen Stempel aufgedrückt hat, will genau das Gegenteil: mit theatralischen Mitteln die Brutalität, die das Alltagsleben der meist schwarzen Bewohner der Favelas am Rande der Glitzer-Metropole Rio de Janeiro begleitet, in die Schranken weisen. So versetzt Junuários Regie das Stück des Elisabethaners auf drei Realitäts-Ebenen. Auf die des stark eingekürzten Stücks Shakespeares, auf die Ebene von Proben und Auseinandersetzungen der Schauspieler mit dem Stück und ihrer ganz persönlichen Sicht auf den Klassiker, und schließlich auf die der Favelas.
Dass hier die Ehebrecherin Gertrud für Lateinamerika stehen soll, Claudius, der Brudermörder, für Korruption, Drogen und Kriminalität, der ältere Hamlet für „unser Land“, also Brasilien, und der Prince „für uns alle“, bleibt freilich kaum nachvollziehbare Behauptung.
Was bleibt und das Publikum nach nur knapp eineinhalb Stunden alles andere als schweigsam auf seinen Plätzen hielt, ist eine geradezu unverschämte, überschäumende Lust am Spiel, an der Bewegung, an der Sprache. Auch wem das brasilianische Portugiesisch ein Buch mit sieben Siegeln sein mag – mit der Sprache sprühte auch der Spaß des Quintetts an ihr nur so um die mitteleuropäischen Ohren. Was der Inszenierung möglicherweise an Feinheit fehlt, wem die psychologische Tiefenlotung Hamlets zu wenig differenziert erschien, ließ sich freilich sehr schnell von der Spiel-Lust und dem Engagement einfangen. Für geradezu überschäumendes Agieren steht vor allem Hugo Germanos Hamlet. Sein Körper- und Mienen-Spiel, sein bestrickender Umgang mit Ophelia, der Matheus Costa köstliche Lieblichkeit und Schüchternheit verleiht, und seiner Mutter Gertrud, der Regisseur Márcio Januário selbst das schlechte Gewissen auf die Stirn zeichnet, sind köstliche Preziosen beim Transformieren des Klassikers in eine ganz andere Welt und Realität.
Die Trans Hamlet Formation - so der Titel dieser Hamlet-Adaption aus Rio - , die, so der Untertitel, Aus der Favela in die Welt wirken möchte, gewährt nicht nur lustvolle Blicke ins Theaterschaffen Brasiliens, es zeigt auch einmal mehr die weltkulturelle Bedeutung und Anziehungskraft Shakespeares. In Neuss bot die Truppe damit zweifellos einen der Höhepunkte des noch bis zum 27. Juni laufenden 25-jährigen Jubel-Festivals. Allein diese Präsentation erwies zudem einmal mehr, wie dankbar man dem Mut der Neusser Festival-Gestalter sein sollte, Shakespeare außerhalb der Stadttheater-Routine auf neue, bislang unbekannte und ungewöhnliche Aspekte hin abzuklopfen. So wie hier und das „mit völlig freiem Geist“. Minutenlanger Jubel.