„Alles ist außer Kontrolle“
Ein Mann und eine Frau, beide um die Vierzig, sitzen in einer Sommernacht in einem dunklen Peugeot auf einem Restaurantparkplatz, irgendwo in der Provinz. Sie, Andrea, ist pharmazeutisch-technische Assistentin und alleinerziehende Mutter einer Tochter. Ihr Liebhaber seit vier Jahren, Boris, ein Glasereibesitzer, steht vor dem Bankrott. Er will Andrea dazu bewegen, das Auto zu verlassen, um mit ihr in das schicke Restaurant essen zu gehen. Es war ihm, so rutscht es ihm zu Andreas Entsetzen heraus, von seiner Frau empfohlen worden. Eigentlich erwartet er hierfür Dankbarkeit („Ich mache mir die Mühe, Zeit zu finden“), obwohl er doch ein Mann mit Familie und Verpflichtungen ist. Und – so der entlarvende erste Satz – es ihm lieber wäre, gleich zur Sache zu kommen: „Oder wir nehmen ein Zimmer im Ibis und vögeln gleich“. Andrea reagiert genervt und ironisch („Ich dreh durch vor Glück“) und raucht hektisch eine Zigarette nach der anderen. Diese Affäre hat vermutlich bessere Zeiten gesehen. Die beiden gehen sich nur noch auf die Nerven und nur ab und an flackert die Sehnsucht nach der Wärme des anderen auf.
Beim Zurücksetzen des Wagens fahren sie Yvonne um, die Schwiegermutter von Francoise, der besten Freundin von Boris‘ Ehefrau. Nichts Tragisches ist geschehen, doch Andrea und Boris werden in das Restaurant gebeten, in dem der Geburtstag der alten Dame gefeiert werden soll. Man redet, man trinkt und langsam gerät so einiges aus dem Ruder. Francoise (Stephanie Eidt) und Eric (Renato Schuch) – beide sind geschieden, beide haben Kinder, nur keine gemeinsamen – haben auch ihre Differenzen. Francoise kann ihre Abneigung gegenüber der sicherlich kapriziösen und nicht pflegeleichten alten Dame nicht immer unterdrücken. So sagt sie zu Eric, der sich immer nur um eine gute Stimmung bemüht und versucht, es allen recht zu machen: „Sag deiner Mutter, sie soll sich zusammenreißen“. Worauf Yvonne bissig reagiert: „Ich lasse mich nicht herumkommandieren“.
Yasmina Reza, eine Meisterin der Analyse von Beziehungskonflikten, schrieb Bella Figura für das Ensemble der Schaubühne. Was sagt sie über ihre kritische Betrachtung dieser problemgeladenen zwischenmenschlichen Beziehungen: „Ich habe in meinen Stücken nie Geschichten erzählt und daher wird man kaum überrascht sein, dass das nach wie vor so ist. Es sei denn, man betrachtet den stockenden, wogenden Stoff des Lebens als Geschichte“.
Thomas Ostermeier übersetzte das Werk ins Deutsche und führte erstmals Regie bei einem Werk von Yasmina Reza. Alles dreht sich, nicht nur in den Beziehungen dieser fünf Personen. Ebenso die Bühne – sei der Parkplatz, sei es das elegante Interieur des Restaurants oder die Terrasse davor. Auf einer Leinwand im Hintergrund sieht man wimmelnde Insektenschwärme, sich paarende Heuschrecken oder Großaufnahmen von Krebsen. Yvonne liebt Meeresfrüchte und diese stehen auch auf der Speisekarte. Die rast- und scheinbar ziellos agierenden Insekten ergänzen das Zirpen der Grillen in dieser Sommernacht, in der man die Frösche vom nahen Teich quaken hört. Und sind ein treffendes Bild für die oft aus dem Gleichgewicht geratenen Gefühle und Handlungen der Figuren. Getragen wird der Abend von dem exzellenten Ensemble. Allen voran Nina Hoss als Andrea. Beeindruckend die Skala ihrer Gefühle, die von bösartigen Attacken gegenüber Boris (wenn sie von ihrer, vielleicht nur erfundenen, Affäre mit einem 26jährigen Kollegen erzählt, wohl wissend, dass sie ihn damit trifft) bis zu glaubhaft vermittelten Ängsten und Einsamkeitsanwandlungen reicht. Wie hat sie immer die Sommerferien gefürchtet, die er „natürlich“ mit der Familie verbrachte. Mark Waschke, mit Dreitagebart, ist ihr ebenbürtig. Genervt von seiner desolaten geschäftlichen Lage will er nur sein gewohntes Vergnügen haben und wirft ihr vor, egozentrisch zu sein. Nur keine neuen Verpflichtungen! Lore Stefanek spielt die alte Dame zwischen Exzentrik und Alterstüddeligkeit wunderbar.
Ein trotz all der Verletzungen, die sich gerade Andrea und Boris zufügen, auch ein höchst amüsanter Abend – dank der treffend-ironischen Sprache von Reza. So kommentiert Andrea die Feststellung von Boris, er ginge (geschäftlich) vor die Hunde, so: „Ein Mann, der vor die Hunde geht, sollte das in aller Stille tun“. Ein Abend der enttäuschten Hoffnungen und geplatzten Träume, aber auch ein Abend der Melancholie, an dem alle versuchen, „bella figura“ zu machen und doch immer wieder scheitern.
Intensiv, genau beobachtet und unter die Haut gehend, großartig gespielt. Die zentrale Frage ist: Was ist Treue, was ist Vertrauen? Aufrichtig sein gegenüber dem anderen, gegenüber sich selbst.
Der letzte Satz fasst alles zusammen, wenn Andrea sagt: „Man bricht mit seinem kleinen Bündel auf, um die Welt zu erobern… aber man verkümmert an Ort und Stelle“.