Als jage der Wahnsinn auf Rossen hinter ihm
„Hieroglyphen!“ ruft Linus Ebner. Immer wieder: „Hieroglyphen!“. Er tanzt, er schreit, er verzweifelt: „Hieroglyphen!“ Lenz versteht die Welt nicht mehr; er kann sie nicht mehr entschlüsseln. Zu Pfarrer Oberlin hat er sich geflüchtet, ist hinaufgegangen ins Gebirg, hat vorübergehend auch mal Ruhe gefunden in der Abgeschiedenheit von Waldbach - doch diese Ruhe währte ein paar Stunden, ein paar Tage allenfalls. Der Pfarrer wurzelt noch in einem festgefügten Weltbild; er findet Halt im christlichen Glauben. Lenz, so lautet zumindest eine der vielen Interpretationen des von Georg Büchner nachgelassenen Novellen-Fragments, gehört zu einer neuen Generation: Er vermag die alten christlich-mythologischen Denkmodelle nicht mehr zu übernehmen, kommt aber ebenso wenig mit dem neu entstehenden rationalistischen Weltbild zurecht. In ihm tobt ein Kampf zwischen Glaube und Atheismus, zusätzlich befeuert von übersinnlich-mythologischen Vorstellungen. Ihm fehlt ein Lebensmodell, das ihm Halt gibt. Und in einer Welt, die nur aus Hieroglyphen besteht, kann einer ja nur verrückt werden.
Büchners Text beruht auf einer wahren Begebenheit. Der Dichter Jakob Michael Reinhold Lenz, der neben Goethe und Schiller als bedeutendster Vertreter des Sturm und Drang gilt und dessen - in Büchners Novelle explizit erwähnte - Dramen Der Hofmeister und Die Soldaten noch gelegentlich in den Spielplänen unserer Theater auftauchen, litt unter einer Schizophrenie, deren Ursache nie mit letzter Sicherheit erkundet wurde. Im Jahre 1778 wurde er wegen seines Gemütszustands von seinem Freund, dem Arzt Christoph Kaufmann, in das elsässische Waldersbach (das Waldbach der Novelle) zum Pfarrer Johann Friedrich Oberlin geschickt, bei dem er sich erholen soll. Der Zustand des Dichters verschlechtert sich jedoch während seines Aufenthalts, so dass Oberlin ihn schließlich nach Straßburg bringen lässt. Dort endet Büchners Novelle: „Er schien ganz vernünftig, sprach mit den Leuten; … es war aber eine entsetzliche Leere in ihm, er fühlte keine Angst mehr, kein Verlangen; sein Dasein war ihm eine notwendige Last. -- So lebte er hin.“
Weite Passagen des Textes hat Georg Büchner nahezu wörtlich aus Briefen und Protokollen des Pfarrers übernommen, weshalb die Novelle von böswilligen Literaturkritikern auch als Plagiat bezeichnet wurde. Das ist natürlich Unsinn, denn erstens blieb der Text ja unvollendet und Oberlins Briefe könnten als noch zu bearbeitende Quellen angesehen werden, zweitens hat Büchner dem Gesamtwerk durch entsprechende Montage und eigene Hinzufügungen eine ganz eigenständige formale und inhaltliche Struktur gegeben und eine für damalige Verhältnisse ungewöhnlich moderne Beschreibung einer tiefen psychischen Störung abgeliefert. Für den Literaturkritiker Ernst Johann (1909 - 1980) ist die Schilderung dieser Krankheit „die kühlste und minuziöseste Schilderung der Aufwühlung einer Seele…, die es in der deutschen Literatur gibt.“
Genau dort setzt die Interpretation von Linus Ebner an: Dem 25-jährigen Folkwang-Absolventen gelingt in seinem einstündigen Solo-Abend ein facettenreiches Psychogramm eines Wahnsinnigen. Das allerdings zeichnet Ebner nicht kühl, sondern mit heißem Atem. Nur wenige Sekunden lang hält es ihn sitzend am hinteren Rand der Bühne, von wo er die ersten Sätze der Erzählung spricht. Lenz geht ins Gebirg, und er, der das rationalistische Weltbild zwar anstrebt, aber nicht anzunehmen vermag, hört die Stimmen der Felsen, fühlt sich bedroht von der gewaltigen Natur. Seine Schritte klingen ihm wie Donnergrollen, und es ist, „als jage der Wahnsinn auf Rossen hinter ihm.“ Als jage der Wahnsinn auf Rossen hinter ihm - so gehetzt spielt Linus Ebner in seiner eigenen szenischen Einrichtung diesen Lenz: Er springt über die Schnur des Mikrofons, das seine Worte ab und zu akustisch verstärkt, und der Wahnsinn scheint ihm aus den Augen zu schauen. Ebner spielt expressiv, mit Mut zur Hässlichkeit, gelegentlich auch zur Albernheit - aber auch voller Schönheit und Charisma. Mit großer Suggestivkraft spricht er Büchners sprachgewaltige Naturbeschreibungen, schildert er die autoaggressiven Schübe des Protagonisten, die Angststörungen und Panikattacken. Eine Schaukel, auf der Ebner wieder und wieder herumturnt, dient nicht der Entspannung, sondern wohl eher als Metapher für das Schwanken der Welt, das der Dichter am Beginn seiner Schizophrenie empfindet.
Die Predigt, die Lenz in der Dorfkirche hält, beruhigt ihn, doch gegen Ende stürzen die Stimmen wieder über ihn herein: „Leiden sei all mein Gewinst, / Leiden sei mein Gottesdienst.“ Wie so oft in der kurzen Stunde dieser Aufführung spielt Ebner mit dem Publikum, lässt es die Büchner/Lenzschen Verse sprechen; wie so oft an diesem Abend und so selten in anderen Theatervorstellungen gelingt die Interaktion mit den Zuschauern, die nun seine Gemeinde bilden. „Das Drängen in ihm, die Musik, der Schmerz erschütterte ihn“, heißt es bei Büchner - bei Ebner werden die Verse zum Lied, der Schizo zum Rapper, der Verrückte zum ekstatischen Tänzer. Denn: „… es zuckten seine Glieder, … er konnte kein Ende finden in seiner Wollust …“ Ein einziges Mal wird reale Musik eingespielt, nachdem Lenz von Friederike spricht, Friederike Brion, seiner Geliebten und der früheren Geliebten von Goethe, die er auch verlieren wird: „When we kiss I feel a doubt“, singt Bruce Springsteen da, und unablässig tanzt Linus Ebner einen wilden Staubsauger-Tanz zum Refrain: „I’m going down, down, down…“ - Erneut zeigt Linus Ebner nicht nur sein Einfühlungsvermögen in die Seele eines psychisch Kranken, sondern auch seine ungeheure physische Geschmeidigkeit und Körperbeherrschung.
Lenz schwankt, dem Krankheitsbild der schweren Depression entsprechend, zwischen Hyperaktivität und Antriebslosigkeit, zwischen suizidalen Anwandlungen und Langeweile. Langweilig wird dem Zuschauer sicher nicht an diesem perfekt zwischen Tempo und Nachdenklichkeit changierenden Abend, der sich bei nur geringfügigen Kürzungen eng an Büchners Original-Text hält und bei dem man doch mitempfindet, wie Welt und Inszenierung sich nach und nach in Hieroglyphen verwandeln. „Hören Sie denn nicht die entsetzliche Stimme, die um den ganzen Horizont schreit und die man gewöhnlich die Stille heißt?“, fragt der verzweifelte Lenz den gütigen Oberlin, bevor dieser ihn nach Straßburg bringt. Dort lebt er denn dahin in seiner Leere. Betroffen hören wir den Schlusssatz dieser Inszenierung, bevor wir lange applaudieren.
Den historischen Lenz hielt es nicht lange in Straßburg. Im folgenden Jahr tauchte er in Riga auf, später dann in St. Petersburg und Moskau. Sein mentaler und psychischer Gesundheitszustand verschlechterte sich zusehends. Im Juni 1792 wurde er in Moskau auf offener Straße tot aufgefunden. Er wurde 41 Jahre alt. Georg Büchner, dem mancher eine Seelenverwandtschaft zu Jakob Lenz nachsagt, starb mit 23 Jahren an Typhus. Seinen Lenz hat er nie vollendet.