Sehnsucht und Autismus im Grau der Psychiatrie
Früher war alles besser. Das Theater sowieso. Das glauben jedenfalls die Düsseldorfer, die ihr Schauspielhaus heute meiden und stattdessen schwärmen von den Zeiten von Gründgens, Stroux und der ersten, durchaus glanzvollen Intendanz von Günther Beelitz. Der ist heute, im jugendlichen Alter von 76 Jahren, erneut der Chef im Ring und versucht, das Publikum mit Stücken, Regisseuren und Schauspielern zurückzugewinnen, mit denen er schon in den Jahren 1976 - 1986 in der Landeshauptstadt reüssierte. Darunter: März, ein Künstlerleben von Heinar Kipphardt, 1980 uraufgeführt von Düsseldorfs damals avanciertestem Regisseur Roberto Ciulli, den der knochenkonservative Chefkritiker der einflussreichsten Lokalzeitung alsbald mit von jeglichem Verständnis für dessen innovative Theatersprache ungetrübten Verrissen schändlich vom Hof jagte.
Früher war alles besser. Es gibt jedenfalls Szenen aus dem damaligen Theater, die sich unauslöschlich in das Gedächtnis eingegraben haben. War es Wolf Aniols Alexander März oder war es einer seiner Mit-Patienten in der psychiatrischen Anstalt Lohberg, in der das Kipphardt-Stück spielt, der damals in der längst abgerissenen Messehalle C in einem der vielen Krankenbetten lag und immer, immer wieder seinen Kopf auf das eiserne Gitter seines Lagers hämmerte? Ganz langsam, aber in einem unerbittlichen Rhythmus: tock - tock - tock. Aufschreie gab es im Publikum, denn das wiederkehrende dumpfe, aber harte Aufschlagen des Kopfes schmerzte den Zuschauer mehr als den armen Schauspieler selbst. Viereinhalb Stunden dauerte die Düsseldorfer Aufführung damals, und wer nicht vorzeitig gegangen ist, weil er das dumpfe Leben in der Anstalt nicht mehr ertragen konnte, applaudiert in Gedanken noch heute und fährt nicht mehr ohne Gruseln die Bergische Landstraße hinauf, an der zur Rechten immer noch das renommierte Landeskrankenhaus liegt.
Früher war alles besser. Aber die Psychiatrie ganz sicher nicht. Heinar Kipphardts Stück, das eigentlich eine vom Autor vorgenommene Dramatisierung seines Romans ist, der eigentlich eine Buchfassung des vom Autor geschriebenen Films auf dem Jahre 1975 ist - dieses Stück ist eine radikale Anklage der Methoden der Psychiatrie in den 50er, 60er Jahren des letzten Jahrhunderts. Es ist zudem eine illusionslose, zutiefst ernüchternde Beschreibung der Überforderung der Wissenschaft im Umgang mit den unter menschenunwürdigen Umständen dahinvegetierenden Kranken. „Alexanders Krankheit ist nicht die Psychose, sondern die Psychiatrie“, hatte Kipphardt (selbst Mediziner mit Studienschwerpunkt Psychiatrie) zu seiner Werkreihe gesagt. Der einzige, dem dies in Kipphardts Film/Roman/Theaterstück dämmert, ist der junge Arzt Dr. Kofler, der mit Empathie auf den luzide Gedichte schreibenden Alexander März einzugehen versucht und der mehr und mehr an seinem Job zu verzweifeln beginnt. Das aufgeklärte Publikum weiß: Was es da vorgesetzt bekommt, ist nicht Fiction, sondern collagierte Realität. Alexander März hat ein reales Vorbild, den psychisch kranken Ernst Herbeck, der sich als Dichter Alexander Herbich nannte und dessen Texte von seinem Psychiater Leo Navratil publiziert wurden. Die Vita von Herbeck entspricht weitgehend dem fiktiven Lebenslauf des Alexander März, und große Teile von Kipphardts Text entstammen realen Krankenberichten und authentischen Äußerungen schizophrener Patienten. Kipphardts Analyse fügt sich ein in andere literarische Zeugnisse wie Hannah Greens ca. zehn Jahre älteren autobiographischen Bericht „Ich hab dir nie einen Rosengarten versprochen“ oder, in abgewandelter Form, Yann Queffelecs ca. zehn Jahre jüngeren Roman „Barbarische Hochzeit“.
In den Zeiten, in denen Kipphardts Stück spielt, begegnet man den abweichenden Verhaltensmustern schizophrener Patienten durch Wegsperren, Sedieren, Ruhigstellen. Unsere Vorstellungen von Elektroschocktherapie, Zwangsjacken und tagelang festgeschnallten Kranken stammen aus dieser Periode. Menschen, die den geltenden Normen nicht entsprechen, werden gebrochen, bevor man versucht, sie zu verstehen. Zum Ausbrechen hat der Patient keine Kraft. Im Stück gelingt es März vorübergehend, gemeinsam mit seiner Geliebten und Mit-Patientin Hanna Graetz aus der Klinik zu fliehen, und das Stück spielt auch in mehreren Räumen der Psychiatrie. In Alexander Müller-Elmaus Neu-Inszenierung am Düsseldorfer Schauspielhaus gibt es dagegen nur einen einzigen Raum - ein Gefängnis mit hohen, unüberwindlichen Mauern in freudlosem, tristem Grau und zwei ins Nichts führenden Sprossenleitern in beiden Ecken. An der höheren davon hängt zu Beginn der Schmerzensmann mit einer funkelnden Dornenkrone, die Arme ausgebreitet vor kahlem Geäst. Es ist ein wahres Miserikordienbild, wie Jakob Schneiders März dort hängt, während die übrigen Schizos, freudlos grau wie die Raumfarbe, mit gefalteten Händen vor ihm kauern. Dazu erklingt ein Choral aus der Matthäuspassion. Wenn März ein erstes Gedicht zum Thema Schnee vorträgt, ist die Bühne in kaltes Neonlicht getaucht - diese Räume wärmen nicht, so wenig wie die in ihnen lebenden Menschen, gleich ob sie Ärzte oder Patienten sind. In Müller-Elmaus Inszenierung werden die sowieso von den gleichen Schauspielern gespielt: Der Übergang von der Rolle des Irren zur Rolle des Irrenarztes ist fließend und vom Zuschauer oft erst nach mehreren Sätzen zu bemerken.
Wärmendes, also auch Zwischenmenschliches ist in Lohberg nicht vorgesehen. Unablässig malen die Patienten kleine Kreidekreise an die grauen Wände: sich um sich selbst drehende Spiralen oder kleine Strichmännchen-Gesichter, die von unzähligen darum herum gezogenen Kreisen erdrückt werden. Unter vielen Schichten ist das verkapselte Ich der Kranken vergraben. Liebe zwischen den Patienten erscheint unmöglich - „Das Lieben hat zwei Personen. Das ist der Kummer“, sagt März einmal. Schizophrene Patienten hätten totales Desinteresse aneinander, sagt Klinikdirektor Feuerstein im Gespräch mit Dr. Kofler. Psychiotische Liebe sei „etwas völlig anderes“ - will heißen: sie gibt es nicht, allenfalls als der aus der Wissenschaft bekannte Liebeswahn oder die Erotomanie. Und doch regt sich da etwas zwischen Alexander und Hanna - ihre scheuen, zarten Annäherungsversuche gehören so, wie Jakob Schneider und Katrin Hauptmann sie spielen, zu den zartesten und berührendsten Liebesgeschichten, die wir je auf einer deutschen Bühne sahen. Katrin Hauptmann schlafwandelt über die Bühne, sanft und still, verschüchtert und verängstigt, einen anmutigen Irrsinn in den Bewegungen und eine innere Schönheit im träumerischen Blick. Sie verkörpert die Steigerung von Ödön von Horváths Karoline: „Man hat halt oft so eine Sehnsucht in sich - aber dann kehrt man zurück mit gebrochenen Flügeln“ - doch das Leben geht nicht weiter, als wär man nie dabei gewesen, sondern Hanna ist nicht mehr dabei; ihr Leben ist vollständig nach innen gerichtet. Doch: Sind nicht auch diese Schizophrenen mitten im Leben - in ihrer eigenen, in sich aber ebenfalls nachvollziehbaren Realität?
Müller-Elmau und seinen sieben Schauspielern gelingen Szenen von ungeheurer Intensität. Tief unter die Haut geht das Kreuzverhör von März: Die Ärzte besetzen die kaum von den grauen Einheitswänden sich unterscheidenden Türen und nehmen den fast völlig entblößten März ins Verhör. Dessen Antworten sind von erschütternder Wahrheit und Poesie - „ich bin das Ei vom Baum der Erkenntnis“, weiß ja der immer wieder sich zur Christusfigur stilisierende schizophrene Dichter. Winfried Küppers als Ebert organisiert das gemeinsame Lauschen auf die Stille - auch er ist eine ergreifend melancholische Figur, die dem Zuschauer nahe geht: „Bitte, könnte ich nicht endgültig abgeschaltet werden?“ Und Daniel Fries als Lorenz Folgner hat die Leere nicht nur im Blick: Er schildert seinen ereignislosen, leeren Tag und empfindet ihn als angenehm. Müller-Elmau hat die Patienten-Charaktere großartig modelliert. Die Rollen der Ärzte verschwimmen dagegen im Ungefähren. „Normal“ ist in dieser Interpretation eher: langweilig, unbestimmt, unsensibel und unausgereift.
Früher war alles besser? 35 Jahre nach Roberto Ciullis Uraufführung ist die Neu-Inszenierung des Stücks wieder der künstlerische Höhepunkt der Spielzeit am Düsseldorfer Schauspielhaus. Und wieder haben wir eine Figur, die sich auf Jahre ins Gedächtnis eingraben wird. Bettina Kerl als Kuhlmann schafft einen unvergesslichen Charakter, der den Autismus der übrigen Patienten auf die Spitze treibt. Ganz ohne Worte, fast immer in Bewegung, aber stets in Zeitlupe geistert sie durch den Raum, klettert wieder und wieder die abweisenden Feuerleitern in den Ecken des Raumes hoch, greinend, leer und abgrundtief traurig. Einmal nur, und dann zum Schluss ein zweites Mal, stößt sie einen markerschütternden, langen Schrei aus. Dann bricht sich alles Bahn, was tief verborgen und für jeden „Normalo“ nicht dechiffrierbar an zerstörerischen Erinnerungen auf ihrer kranken Seele lastet. Schnell eilen die Pfleger herbei. Sie wird fixiert. Und Ruhe ist.
März hängt wieder am Kreuz - zum Zwecke der Selbsttötung. Er zündet sich an. Lange zuvor hatte März auch in dieser Aufführung sein Gedicht über das Feuer vorgetragen: „… / als ich gegangen bin / brannte ich ab zu Asche. Man sagt sehr leicht / ich bin abgebrannt. / Ich bin ganz Feuer und Flamme / sagt sich gleichwohl noch leichter.“