Der Auftrag im Recklinghausen Ruhrfestspiele

Im Varieté der Revolution

„Erinnerung an eine Revolution“ lautet der Untertitel des Stücks. Aber bei Heiner Müller geht es natürlich nicht in erster Linie um einen Rückblick auf einen gescheiterten historischen Aufstand, sondern um eine Reflexion - besser: eine illusionslose Bestandsaufnahme - von Sinn und Unsinn, Erfolgsaussichten und Nachhaltigkeit linker Revolten und Umsturzversuche. „Der Auftrag“, erteilt durch den Nationalkonvent nach der Französischen Revolution, besteht darin, in der britischen Kolonie Jamaika nach dem Vorbild der französischen Auslandsbesitzung Haiti einen Sklavenaufstand zu entfachen. Die drei Emissäre, die das bewältigen sollen, könnten unterschiedlicher nicht sein: Debuisson ist Sohn eines ehemaligen Sklavenhalters, Galloudec ein bretonischer Bauer und Sasportas ein ehemaliger Sklave. Doch schnell hat sich im Heimatland die politische Gemengelage geändert: Debuisson erhält die Nachricht, dass in Frankreich die Regierung, die den Sklavenaufstand in Auftrag gegeben hat, nicht mehr im Amt ist. Napoleon hat die Macht übernommen und den karibischen Auftrag abgeblasen: „Die Welt wird was sie war, eine Heimat für Herren und Sklaven“, konstatiert Galloudec. Debuisson, der Mann mit den Wurzeln in der herrschenden Klasse, hat damit nur marginale Probleme - er passt sich der neuen Regierung an. Vergeblich versuchen Sasportas und Galloudec, die Revolution fortzusetzen: Sasportas wird aufgehängt, und Galloudec stirbt am Wundbrand. Zuvor schildert er die jamaikanischen Vorgänge in einem Brief an seine Auftraggeber im heimatlichen Frankreich. Mit diesem Brief beginnt das Stück; die Geschehnisse auf Jamaika werden anschießend in einer langen Rückblende mit allegorischen Einschüben erzählt.

Heiner Müller hat das Drama zweimal persönlich inszeniert: im Jahre 1980 an der Volksbühne (Ost-)Berlin und im Jahre 1982 am Schauspielhaus Bochum. In der DDR sei es ein Zeitstück gewesen, in Bochum ein fernes Märchen, erinnerte sich Müller. In der DDR erkannte jeder die Parallelen zwischen Napoleon und Stalin, zwischen Paris und Moskau - mancher dachte wohl auch an Berlin und Honecker. In Westdeutschland - und im 21. Jahrhundert - ist die Rezeption des Stückes für den Laien schwierig - es erfordert viel geistige Übersetzungsarbeit. Und doch mag die Trauer über die gescheiterte Utopie einer gerechteren Gesellschaft den einen oder anderen Zuschauer auch heute noch erfassen, auch wenn so mancher halbstarke griechische Syriza-Bandido der Sehnsucht nach linken Revolutionen derzeit einen kräftigen Dämpfer verpasst.

Tom Kühnel und Jürgen Kuttner erschaffen in der Koproduktion der Ruhrfestspiele mit dem Schauspiel Hannover ein zirzensisches Polit-Varieté, in dem - oh Wunder - der im Jahre 1995 verstorbene Heiner Müller persönlich auftritt: Nahezu der gesamte Text wird in Form einer Lesung durch den Dramatiker selbst aus dem Jahre 1980 eingespielt. Heiner Müller liest im Alleingang und verbleibt „mit republikanischem Gruß“, die Schauspieler haben das Recht auf freie Rede verwirkt und bewegen die Lippen. Nur in seltenen Ausnahmefällen dürfen sie selbst sprechen. Ko-Regisseur Jürgen Kuttner hat einmal behauptet, Heiner Müller sei der beste Interpret seiner Texte, weil er nicht so tue, als ob er sie verstehe. Aber Müller ist nicht eben der charismatischste Interpret seiner Texte. Monoton klingt seine Stimme vom Band - von einem schlecht erhaltenen Band mit minderer Tonqualität. Einzulullen droht uns das; gar manches Mal fällt die Konzentration auf das Gesagte schwer.

So lastet denn die Verantwortung für das Gelingen der Aufführung vollständig auf den Regieeinfällen, auf der Musik und auf der Action auf der Bühne. Und siehe da: Bisweilen entwickelt das Müllersche Gemurmel aus der Vergangenheit geradezu Magie. Hannes Gwisdeks vierköpfige Band „Die Tentakel von Delphi“ untermalt den Text musikalisch und stellt ihn in immer neue Wirkungszusammenhänge - wie Jürgen Kuttner zutreffend beschreibt, „legt (die Regie) eine Tonspur unter den Text, die nicht nur illustriert und verstärkt, sondern die auch einen Eigenwert und eine Eigendynamik hat und sich daran reibt.“ Nicht nur eine Tonspur, auch eine Bilderflut und eine faszinierende Choreographie übermalen den Text. Mit den Methoden des Zirkus, des Varietés und des Puppentheaters für Große entfachen Regie, Bühnen- und Kostümbildner ein phantasievolles Bilder- und Assoziationsgewitter: Magie und Monotonie, Dramatik und Zirzensisches, Laterna Magica-Effekte und Filmsequenzen wechseln einander ab, Akrobatik, Tanz und Fahnenschwingen bringen Schwung in den monoton vorgetragenen Text. „Liberté, égalité, fraternité“ steht über dem zweiten von gleich drei Zirkusvorhängen, die sich auf der Bühne öffnen und schließen. Die drei Auftrags-Revolutionäre tauchen gelegentlich als Trikolore auf: ganz in Blau wie ein Mitglied der Blue Man Group Hagen Oechel als Sasportas „in seiner schwarzen Haut“, ganz in Rot Janko Kahle als der Vertreter des Arbeiter- und Bauernstands Galloudec, und ganz in Weiß in der Mitte, in der Trikolore die eingeschränkte Macht des Königs nach der Revolution symbolisierend, Corinna Harfouch als der weiße Sklavenhalter-Sohn Debuisson, der bald zum Verräter der Revolution werden wird. Zum Symbol der Restauration war schon ganz zu Beginn der ehemalige Auftraggeber Antoine geworden: kostümiert als Kaffeekanne, die fröhlich wippend mit der zugehörigen Tasse ein Tänzchen aufs Parkett legte. Versteckt Antoine nur seine revolutionäre Gesinnung vor den neuen Herrschern, oder ist er längst aus Bequemlichkeit und Anpassungswillen zum neobourgeoisen Sesselfurzer geworden?

Im „Theater der weißen Revolution“ spielen Sasportas und Galloudec die Konfrontation zwischen Robespierre und Danton als Comic. Als Claqueur heizt am Rande des Boxrings eine kleine Heiner-Müller-Figur den Kämpfern ein. Auch andere Revolutionshelden treten in comicartigen Bildern auf: Lenin, Che Guevara (der in seinem Tagebuch einen der jamaikanischen Müller-Story nicht unähnlichen hoffnungslosen Auftrag in Zentralafrika beschreibt), Karl Marx und andere mehr. Fast auf den Tag genau neun Jahre nach der Uraufführung des Stücks am 12. November 1980 wurde auch der - damals längst gescheiterte - Lenin-Marxsche Revolutions-Auftrag endgültig abgeblasen. Müller wusste das beim Schreiben noch nicht, Kühnel und Kuttner bei ihrer Inszenierung schon. Ihre Erinnerung an eine Revolution ist tatsächlich eine ferne, stark verfremdete. Die Erinnerung der großen Müller-Kennerin und -Bewunderin Corinna Harfouch an den Dramatiker ist dagegen vermutlich noch recht vital. Harfouch darf in Kühnel-Kuttners Inszenierung den berühmten „Mann im Fahrstuhl“-Monolog ganz real und ohne Müller-Playback vortragen. Der Monolog ist nach Aussage des Autors inspiriert von einer Fahrt mit dem Paternoster im Gebäude des Zentralkomitees der Partei zu SED-Generalsekretär Honecker. Einer Fahrt, an deren Ende Müller als Bittsteller bei Erich Honecker auftrat und auf der auf jeder Etage dem Paternoster gegenüber ein Soldat mit Maschinenpistole saß. Die SED-Funktionäre kamen Müller vor wie Gefangene der Macht. Wie er sich selbst fühlte, ist nicht überliefert. Wie kafkaesk der Revolutionsversuch in sozialistischen Arbeiter- und Bauernstaat aber längst geworden war, hat er in der allegorischen Szene eindrucksvoll beschrieben. Harfouch spielt den surreal anmutenden Monolog im Ossi-Dialekt - ironisch, distanziert, und doch irgendwie voller Trauer.