Eine Komödie zwischen einer Ankunft und einer Abreise
Der Kirschgarten ist Anton Tschechows letztes Stück. Sechs Monate nach der Uraufführung am 17. Januar 1904 starb Tschechow. Wenige Jahre vor den Revolutionen 1905 und 1917 zeigt das Werk eine Gesellschaft, die ihre Funktion verloren hat. Der alte Gutsbesitz, auf den die Gutsherrin Ranjewskaja und ihre Begleitung aus Paris zurückkehren – von Anfang an steht fest, dass sie dieses Heim nicht retten können, das alte Haus, welches mit so vielen Erinnerungen verknüpft ist –, wird im Laufe der Handlung immer mehr zu einer Art Wartestation: Man wartet auf das unvermeidliche Ende, den Verkauf des Gutes, und ist doch schon mit den Vorbereitungen auf die Abreise befasst. Die Schulden sind ins Unermessliche gestiegen, jeder weiß es, doch man ist wie gelähmt von alten Erwartungen an’s Leben und wenig rosigen Zukunftsaussichten. Fatalistisch lässt man alle Chancen einer Rettung verstreichen und träumt von anderen, längst vergangenen Welten. Die Gesellschaft im Stück nimmt Abschied von dem legendären Kirschgarten, der Stätte der verklärten Vergangenheit. Diese Menschen sind schöngeistig, aber lebensuntüchtig. Sie sind mit allem unzufrieden und stehen sich selbst im Wege. Ihr Unglück scheint tragisch und komisch zugleich. Am Ende wird der Kirschgarten an den vom Leibeigenen zum Unternehmer aufgestiegenen Kaufmann Lopachin verkauft und abgeholzt. Der Sieg einer neuen Ökonomie – auf dem Gelände sollen Ferienhäuser entstehen – über das scheinbar Nutzlose, hier die Natur in ihrer zwecklosen Schönheit, ist besiegelt. Der Kirschgarten ist eine tragische Komödie, das Abgelebte muss gehen. Fortschritt bedeutet hier den bedenkenlosen Umgang mit der Natur.
In Bochum inszenierte Tamás Ascher den Kirschgarten. Er gilt als einer der renommiertesten Tschechow-Regisseure und war maßgeblich an der Entwicklung des modernen ungarischen Theaters beteiligt. Ascher inszenierte vor 27 Jahren mit großem Erfolg Tschechows Drei Schwestern am Bochumer Haus. Nun wollte er mit der Eröffnungspremiere 2015/16 an diese schöne Erinnerung anknüpfen.
In seiner dreistündigen Inszenierung hatte er vor, herauszuarbeiten, was in den endlos vielen Dialogen an Handlung steckt: „Bei Tschechow hat man oft das Gefühl, es passiert nichts, aber das stimmt ganz und gar nicht“. Viel Spannendes ist dabei leider nicht herausgekommen. Die Tapeten sind verblasst, das Mobiliar alt, die Farben trist. Wir sehen das ehemalige Kinderzimmer der Gutsbesitzerin Ranjewskaja, die sich nach Jahren des Herumtändelns in Paris voll Wehmut auf die Relikte der ach so glücklichen Kindheit – Schaukelpferd, Brummkreisel, Kinderstühlchen – stürzt. Bettina Engelhardt spielt diese hoch verschuldete Frau, die sich der harten Realität nicht stellen will und lieber die praktischen Probleme des Alltags fast übersprunghaft mit hektischen Aktivitäten wie der spontanen Planung eines Festes verdrängt. Ihr zur Seite als ebenso lebensuntüchtiger Vertreter der einst feudalen Gesellschaft ihr Bruder Leonid. Martin Horn gibt ihn als unauffälligen Eigenbrötler, der sich fast in seiner Strickjacke versteckt. Gern schwafelt er vor sich hin, nur hört ihm keiner zu. Marco Massafra ist der Buchhalter Jepidochodow. Er spielt diesen Unglückswurm, dem aber auch alles misslingt, mit einem gewissen Charme. Fast wartet man schon auf seinen nächsten Patzer. Petja, der ewige Student, der noch Visionen hat, wird von Torsten Flassig nachdrücklich verkörpert. Nüchtern stellt er fest: „Es gibt kein Zurück. Man kann sich doch nicht ständig selber belügen. Man muss doch einmal im Leben der Wahrheit ins Auge sehen“. Kristina Peters spielt Warja, die Pflegetochter der Gutsherrin, als unauffällige, graue Maus, die in abgezirkeltem Trippelschritt und mit eckigen Bewegungen daherwieselt. Positiv Roland Riebeling als bodenständiger Proletarier. Ihm glaubt man den erfolgreichen Selfmademan Lopachin, der trotz der eigenen soliden Karriere immer noch etwas in den alten Standesunterschieden verhaftet ist.
Insgesamt aber zieht sich der ruhig dahinfließende Abend trotz mancher ausgespielter komischer Details wie knarrender Stiefel oder vertauschter Galoschen recht in die Länge. Man bleibt als Zuschauer seltsam unberührt vom Schicksal dieser Menschen, die sich fast alle unverstanden fühlen und voller Ängste in einer für sie unübersichtlichen und lähmenden Welt sind.