Glaube und Zweifel
Die Bühne ist eingekastet, ausgefüllt mit einem mächtigen Konstrukt, das sogleich Beklemmung suggeriert. Denn unter den Füßen, da ist der Boden abschüssig, und über den Köpfen, da zieht ein schräges Dach enge Grenzen. Hiob in den Bochumer Kammerspielen, nach Joseph Roths sprachgewaltigem Roman, von Koen Tachelet zu einer stringenten Bühnenfassung komprimiert, gibt sich als ein Stück, das religiöse Tradition und Freiheitsbegehren, Glaubenszweifel und vermeintliches Glück verhandelt. Festgefügtes wird in Frage gestellt, Neues teils argwöhnisch beäugt. Die Figuren durchleben Wechselbäder der Gefühle, ihr Leben entpuppt sich als ein Dasein auf unsicherem Terrain.
Regisseurin Lisa Nielebock fokussiert ihren Blick auf jede einzelne Person. Alle sind ständig präsent, anfangs brav in Reih’ und Glied stehend, dann mitunter zu Gruppen sich zusammenfindend. Als wäre dieser Bühnenkasten, den Oliver Helf gebaut hat, ein abgeschirmtes Schachbrett, auf dem sich Zug um Zug diverse Konstellationen bilden. So erleben wir pures, konzentriertes, spannendes Schauspielertheater, das ganz ohne Video oder andere technische Beigaben auskommt. Nur Musik erklingt gelegentlich – die aber ist für den Fortgang des Stückes von eminenter Bedeutung.
Erzählt wird die Geschichte einer jüdischen Familie aus dem osteuropäischen Galizien, das sich seinerzeit über Teile der Ukraine und Polens erstreckte, Anfang des 20. Jahrhunderts. Der Vater, Mendel Singer, ist ein einfacher Lehrer und hat seine Liebe Not mit den beiden Söhnen Schemarjah und Jonas sowie mit Tochter Mirjam. Auch muss er dem Altern seiner Frau Deborah ziemlich hilflos zusehen. Im Zentrum aber steht der Sohn Menuchim: geschlagen mit Epilepsieanfällen, bringt er außer „Mama“ kein Wort heraus. Die Geschwister würden dieses große Kind am liebsten meucheln. Doch Mendel ist gläubig, Gott habe es nunmal so gewollt. Eine ärztliche Behandlung des Jungen lehnt der Vater streng ab.
Michael Schütz spielt diesen Mendel Singer. Nicht als bärbeißigen Patriarchen, sondern als Familienoberhaupt, das versucht, seiner Verantwortung gerecht zu werden. Ihm zur Seite steht, so praktisch denkend wie resolut, Irene Kugler als Deborah. Mendels Hadern mit dem Schicksal des behinderten Sohnes wischt sie beiseite: Man dürfe ihn nicht allein lassen, dann werde alles gut.
Indes, es kündigt sich der große Umbruch an, eine Entwicklung, die die Familie zerreißen wird. Plötzlich steht Mendel, von Schicksalsschlägen gezeichnet, wie einst Hiob, als zorniger Gottesankläger da. Weil sein Sohn Jonas (Damir Avdic) unbedingt in die Armee des Zaren eintreten musste und während des Krieges irgendwann als verschollen galt. Weil er dem anderen Junior, Schemarjah, den Florian Lange immer ein bisschen aufgekratzt gibt, nebst Frau und Tochter nach Amerika folgt, um mitzuerleben, wie auch dieser im Krieg bleibt.
Tochter Mirjam wiederum – Xenia Snagowski gibt sie als aufmüpfige Göre – landet ob ihrer sexuellen Obsessionen im Irrenhaus. Die Mutter reißt sich die Haare aus und stirbt vor Kummer. Mendel allein in Amerika: „Ich habe zu wenig geliebt“, stößt er verzweifelt hervor, und denkt an den zurückgelassenen Menuchim.
Dem ist, im kleinen Schtetl, einzig ein Krönchen geblieben – der Freiheitsstatue nachgebildet, als symbolhafter Trost. Und während die Familie in Amerika sich vermeintlich cool gibt, zu Geld kommt und abhängt, bis die Zeit des Leidens beginnt, stemmt sich Jana Schulz als Menuchim fortwährend gegen das Dach, auf der Suche nach der Welt hinter der Fassade.
Schulz gibt den kranken Jungen mit sparsamster Mimik und Gestik. Schief steht sie da, fast unmerklich zuckend und zitternd, mehr Objekt im Geflecht der Figuren denn Subjekt. Später, in Amerika, wird das Kind den Vater finden, geheilt und ob seiner Musikalität zu dirigentischen Ehren gekommen. Dann ragt Schulz kerzengerade über allen und das Stück findet sein versöhnliches Ende. Der Lärm der Welt wird gewissermaßen zur klassisch ebenmäßigen Symphonie.
Regisseurin Nielebock verzichtet dabei auf überzogene Sentimentalität. Wie sie überhaupt die Überzeichnung meidet. Die Kritik am American Dream kommt nicht als kreischende Suada daher, sondern als sprachgewaltig-dramatische Schilderung Mendels, wie ihn die Großstadt mit allem Lärm und Gestank zu verschlingen droht. Fein verwoben mit schöner Melancholie, wenn er ein Gefühl namens Heimweh offenbart.
Beeindruckendes Theater ohne Schnickschnack, am Ende heftig akklamiert.