Die Show – Fernsehen at its best?
1970 erregte eine fiktive TV-Show, Das Millionenspiel, die Nation. Ein Fernsehfilm, inszeniert wie eine echte Spielshow mit fingierter Live-Übertragung, die in einem Studio in Osnabrück gedreht wurde. Regisseur Tom Toelle und Drehbuchautor Wolfgang Menge schufen ein Pendant zu Orson Welles‘ Krieg der Welten. 1938 löste Welles mit dieser Hörspielversion des Science-Fiction-Romans von H. G. Wells eine Massenpanik aus. Die Story: eine packende Live-Reportage über die Landung von Untertassen in New York. Im Millionenspiel geht es um Menschenjagd. Bernhard Lotz, der Kandidat, ein ganz normaler Alltagsmensch, muss sechs Tage lang um sein Leben laufen, gejagt von Kopfgeldjägern. Überlebt er dieses brutale Rennen, winken eine Million Mark als Preis. Der Film sollte ein Kommentar auf die Auswirkungen des auf Profit und Einschaltquoten getrimmten Kommerz-Fernsehens sein.
Kay Voges und seine Mitautoren haben diese Mediensatire weiterentwickelt und um diverse Gegenwartsbezüge erweitert. Die eigentliche Geschichte wurde beibehalten. Der Bäcker Bernhard Lotz (Sebastian Kuschmann, ein wahrer Muskelmann, der geradezu naiv daran glaubt, das wirklich große Los zu ziehen) ist der todesmutige Kandidat, der von einem dreiköpfigen Killerkommando gejagt wird und dabei in dieser TV-Show sein Leben für eine Million Euro riskiert. Zu den Jägern gehört der bullige Bruno Hübner (Andreas Beck), die langbeinige, blonde Natascha Linovskaja (Bettina Lieder), die sagt: „Ich töte am liebsten auf High Heels“, und der durchgeknallte Howie Buzinsky (Björn Gabriel). Lotz muss schwierigste Prüfungen bestehen. So wird er im Untergrund von Hunden gehetzt oder muss stundenlang auf einem Eisblock ausharren. Stets gejagt von dem schwer bewaffneten Killerkommando, das die „Lizenz zum Töten“ hat. Da der Kandidat gegen die Regeln verstößt, als er sich bewaffnet, muss er zum Schluss noch ein Russisches Roulette spielen. Dies überlebt er nicht.
Voges hat an nichts gespart. Ein opulentes Bühnenbild mit großer Showtreppe, Kuschelsitzecke für oberflächliche, kurze Interviews mit den Gästen, eine Live Band und eine große Leinwand für die Rückblenden mit den Geschehnissen der letzten Tage. Wir sind am sechsten Tag angekommen, das Finale steht bevor. Live-Kameras filmen das Bühnengeschehen aus verschiedenen Blickwinkeln, ständig geben Außenreporter in „Live Einspielungen“, die Voxi Bärenklau, Kameramann und Lichtdesigner, geschickt vorproduziert hat, Kommentar zum angeblichen aktuellen Stand der Menschenhatz. Großartig smart und wendig als Moderator Bodo Aschenbach, der nie aus dem Tritt gerät: Frank Genser. Perfekt spielt er auf der Klaviatur der Gefühle. So z.B. wenn er von „sozialer Gerechtigkeit“ schwafelt, wo auch Underdogs die Chance bekommen, viel Geld zu gewinnen. Schockierend der Wechsel zwischen Pseudowarmherzigkeit und nackter Freude an brutalen Bildern des blutenden Kandidaten. Ihm zur Seite Julia Schubert als charmante Assistentin Ulla mit einem im deutschen Fernsehen so beliebten holländischen Akzent. Immer wieder werden „Stargäste“ mit viel Pomp angekündigt, die ihre neuesten Hits präsentieren. Und im Anschluss Belanglosigkeiten bei Kurzinterviews von sich geben.
Nichts wird ausgelassen, was solche Verdummungsshows auszeichnet. So gibt es die Psychologin Nina Truhe (Friederike Tiefenbacher), die mit „aktuell im Netz abgefragten Zuschauerdaten“ die Meinung des Fernsehvolkes verkündigt. Natürlich gibt es einen vereidigten Notar, Dr. Fletscher (Uwe Rohbeck), der die Pistole für den finalen Test überprüft hat. Und – schon vor dem eigentlichen Beginn der Show – den schmierigen Warm-Upper (Carlos Lobo), der das Publikum anheizt: „Ich mach Euch warm.“ Sei es mit sexistischen Witzen oder Sprüchen zum aktuellen Erfolg des BVB. Wann immer er den Applaus-Schalter betätigt, springt das Publikum darauf an. Auch wenn im Verlauf der drei Stunden langen Produktion das Thema Flüchtlinge – ebenso hungrig und ohne Schlaf auf der Flucht wie Bernhard Lotz – immer häufiger angesprochen wird. Es hat keinerlei Wirkung. Selbst als Bruno Hübner am Schluss sagt: „Solange das Kommando unterwegs ist , braucht Deutschland keine Angst vor Flüchtlingen zu haben“, tut das der fast euphorischen Jubelstimmung im Zuschauerraum scheinbar kaum Abbruch.
Der Schluss-Applaus will kein Ende nehmen. Sicherlich gilt er dem intelligent konzipierten Abend und der bestechenden Leistung aller Mitwirkenden. Ist aber bedauerlicherweise auch ein Beweis dafür, dass zumindest die Mehrzahl der Theaterbesucher sich dem gedankenlosen Konsum dieses perfiden, menschenverachtenden Entertainments hingegeben und nicht im Traum sich auch nur kurzzeitig der brutalen Realität des Flüchtlingsproblems gestellt hat.
Eine gelungene Supershow des Dortmunder Hauses? Sicherlich! Ein Anstoß, die TV-Kultur kritisch zu hinterfragen? Wohl kaum.