Königsallee im Schauspielhaus Düsseldorf

Die Manns - undramatisch

Einerseits - andererseits. Einerseits wurde der im Jahre 2013 erschienene Roman Königsallee von Hans Pleschinski von der Mehrzahl der Literaturkritiker hochgelobt, anderseits schaffte er es nicht einmal auf die Longlist für den Deutschen Buchpreis. Einerseits berichteten begeisterte Leser von ihrem Lesevergnügen, andererseits hörte man von manchem sonst zur Selbstkasteiung gern bereiten Literatur-Liebhaber, er habe das Buch nach der Hälfte zur Seite gelegt. Es waren vor allem Thomas-Mann-Jünger und -Kenner, die den Roman schätzten - sofern sie zu den sympathischen Zeitgenossen mit einer Fähigkeit zur Selbstironie gehörten. Sie liebten das Spiel von Hans Pleschinski mit Thomas Manns verschnörkelter, eitler Sprache, sie hatten diebischen Spaß an den Bezügen zu Manns literarischen Figuren, zu Felix Krull, der in Pleschinkis Buch als Liftboy im Breidenbacher Hof auftritt, zu Hans Castorp, Naphta und sogar Madame Chauchat aus dem Zauberberg, die auch in Düsseldorf mit theatralischem Auftritt die Türen knallt, zum kleinen Herrn Friedemann und ganz besonders zu Lotte in Weimar. Der Plot und die Konstruktion von Lotte wurden zum Vorbild für Hans Pleschinskis Roman. Andererseits waren es nicht nur Thomas-Mann-Verächter, die Pleschinskis Roman strikt ablehnten. Denn da spreizte einer ebenso eitel die Federn wie der Nobelpreisträger - mit der Persiflage einer Sprache, die er zwar gut, aber nicht so perfekt beherrschte wie sein Vorbild. Und da hatte einer ein Buch geschrieben, dem - Lotte zum Trotz - jegliche Dramaturgie abging, das redselig und ausufernd in nicht enden wollenden, nur durch Stichworte unterbrochenen Monologen wichtige Figuren aus Thomas Manns Umfelds karikierte. Durchaus amüsant und treffend, durchaus nicht ohne Biss werden Tochter Erika, Sohn Golo und der Ex-Freund und spätere Bücherverbrenner Professor Bertram satirisch skizziert. Mehr dichterische Freiheit hat sich Pleschinski wohl bei der Charakterisierung von Klaus Heuser herausgenommen, der zentralen Figur des Buches. Heuser hatte der homoerotische Neigungen unter Qualen unterdrückende Thomas Mann 30 Jahre zuvor während eines Urlaubs auf Sylt kennengelernt und nie mehr vergessen: „Mein Herzensschatz“ hatte er ihn in seinen Tagebüchern genannt, und Jahre später noch erinnerte er sich an „geliebte Lippen, die ich küsste“.

Einerseits - andererseits: So ist auch die Inszenierung von Wolfgang Engel am Düsseldorfer Schauspielhaus zu beurteilen. Ilja Richter hat den Roman dramatisiert, Engel und sein Düsseldorfer Team haben eine gekürzte „Düsseldorfer Fassung“ daraus gemacht und dennoch das eine oder andere Düsseldorfer Lokalkolorit gestrichen. Einerseits drängt sich der Roman mit seinen Spielstätten im Breidenbacher Hof (immer noch erste Adresse in der Landeshauptstadt), im Goldenen Ring (immer noch ein beliebtes Altstadt-Lokal), im Künstlerverein Malkasten (immer noch Stätte gesellschaftlicher Ereignisse) für die Rückgewinnung des auf Distanz zum Theater gegangenen Düsseldorfer Publikums auf. Andererseits muss man gegen die monologartige, undramatische Struktur des Textes angehen, um das Ganze theatertauglich zu machen. Engel hat das erkannt, aber er ist nicht konsequent genug vorgegangen, so dass das „andererseits“ überwiegt: Der Theaterabend funktioniert nicht recht.

Der Regisseur wendet im Wesentlichen zwei dramaturgische Kniffe an: Erstens versucht er die wenig dramatische Handlung aufzulockern, indem er einen Conferencier einführt. Martin Reik spricht nicht nur ein paar Zwischentexte, sondern er spielt Musik: Musik mit Düsseldorf-Bezug und zeitgenössische Musik aus dem Jahre 1954, als - das ist der Clou des Buches - Thomas Mann auf einer Lesereise nach Düsseldorf zufällig gleichzeitig mit seiner Jugendliebe Klaus Heuser im Breidenbacher Hof absteigt. (Die Lesereise ist real, das Zusammentreffen mit Heuser erfunden.) Kraftwerk, Tote Hosen, Capri-Fischer, Schöner Gigolo, armer Gigolo - munter geht es durch die Zeiten. Dabei schraubt Martin Reik an einem altertümlichen Mischpult-Karren herum und dreht schnell die Musik auf dissonant - was ihm nicht schwerfällt, denn da er eher schlecht als recht mitsingt, ist es mit der Harmonie eh nicht weit her. Wenn das Hin und Her zwischen Harmonie und Dissonanz sowie die Oberflächlichkeit der Schlager-Texte eine Spiegelung des ambivalenten politischen Bewusstseins der damaligen Düsseldorfer Gesellschaft sein soll, so ist sie dennoch wenig gekonnt dargeboten. Da der Roman durchaus etwas Boulevardeskes hat, hätte man akzeptiert, wenn die gleiche Musik einfach volle Weimar-Lotte mit allem zuckersüßen Kitsch über die Saallautsprecher abgenudelt worden wäre. In einer auf Gefälligkeit zielenden Inszenierung aber mit einem inkompetent wirkenden (wirken sollenden!) Alleinunterhalter gegen den Strich zu bürsten - das musste schief gehen.

Wobei sich durchaus die Frage stellt, ob Wolfgang Engel überhaupt eine gefällige Inszenierung anbieten wollte. Denn der zweite dramaturgische Kniff besteht in einer Betonung eben jener politischen Ambivalenz der 1954er Nachkriegs-Gesellschaft. Dies gelingt allerdings leider nur zu Beginn und am Ende des zweistündigen Abends. Wie die Stadträte Giesewindt und Dr. Feilhecht (Artus-Maria Matthiessen und Jakob Schneider) zwischen Stolz auf den hohen Besuch und kaum verhohlener Verachtung für den ins Exil gegangenen „Deserteur“ und „Anschwärzer“ schwanken, wie sie gleichzeitig den zehn Jahre zuvor noch verfemten Düsseldorfer Helden Harry Heine hochleben lassen - das hat schon kabarettistische Qualitäten. Insbesondere Matthiessen erweist sich als wunderbar doppelbödiger Ironiker. Auch an anderer Stelle fokussiert sich die Strichfassung zu Beginn auf politische Zwischentöne und Konflikte - das lässt hoffen auf einen interessanten, vielleicht gar politisch relevanten Abend.

Doch leider gelingt es dem Düsseldorfer Team nicht, die wenig dramatische Struktur des Plots aufzulösen. Was der Text nicht hergibt, müssten die oft so großartigen Düsseldorfer Schauspieler mit ihrem Spiel kompensieren. Doch allzu viel wird Standbein/Spielbein gespielt, statisch und - wohl kaum gewollt - mit der Biederkeit der 50er Jahre. Die fast ständig rotierende abstrakte Drehbühne vermag diesen Eindruck nicht zu mildern. Ausgerechnet die Hauptfigur des Klaus Heuser bleibt bei Harald Schwaiger blass, obwohl er es ist, auf den sich Ängste und Ablehnung, Sehnsüchte und Hoffnungen der verschiedenen Mann’schen Familienmitglieder fokussieren. Sein indonesischer Geliebter Anwar Batak erinnert bei Tung Ngo allzu sehr an die jungen Herren, die man in thailändischen 3-Sterne-Hotels in Begleitung mediokrer Touristen trifft. Claudia Hübbecker erreicht nicht die Egozentrik und Überdrehtheit der Erika Mann aus dem Roman, aber ihr gelingen ein paar ansprechende burschikose oder ironische Szenen. Das Zusammentreffen von Heuser und Batak mit Golo Mann im Goldenen Ring gehört zu den burleskesten Szenen des Romans - Jakob Schneider gibt den „Zauderer, Sohn des Zauberers“, ganz ordentlich, bleibt aber weit hinter seinen in März oder der Iphigenie gezeigten Fähigkeiten zurück. Recht ansprechend spielt Tanja von Oertzen die zurückhaltende, aber stets wachsame Autoren-Gattin, die immer im Hintergrund bleibt, aber an den entscheidenden Stellen der Gespräche schützend eingreift: mal lakonisch, mal ironisch, mal mit großer Bestimmtheit. Artus-Maria Matthiessen überzeugt auch in seiner zweiten Rolle als immer noch der rechten Blut- und Boden-Metaphorik verfallener Professor Bertram, dessen reaktionäres Weltbild den Zuschauer empört und der doch eine versteckte positive Seite zu haben scheint. Leben in die Bude bringt die großartige Karin Pfammatter als zwergenhafte, schrill gekleidete und frisierte, aber messerscharfe Fragen stellende Lokal-Journalistin Kückebein aus Lübeck.

Einer aber überragt die gesamte Düsseldorfer Combo: Es ist der Zauberer himself, Reinhart Firchow als Thomas Mann. Statisch agiert auch er, aber bei ihm ist das Statische gewollt: Es ist das Statuarische eines schon zu Lebzeiten zum Denkmal gewordenen großen Geistes. Firchow verkörpert die Würde des großen Mannes mit dem Charisma des großen Schauspielers. Die Souveränität und intellektuelle Überlegenheit des Erfolgreichen heben ihn über die anderen hinaus. Aber es ist wohl auch die jahrelang geübte Selbstdisziplin im Hinblick auf seine emotionale und sexuelle Orientierung, die ihn zum steinernen Denkmal werden lässt. Ihm hat offenbar auch die volle Konzentration der Regie gegolten, denn bei ihm - und nur bei ihm - haben sich auch Technik und Lichtregie des Zaubers der Theatermittel erinnert: Im Moment einer kritischen Selbstreflexion liegt die eine Hälfte seines Gesichts im gleißenden Licht, während die andere im dunklen Schatten verschwindet: wir sehen die Lichtgestalt und ihre dunkle, bis weit nach dem Tod verborgene Seite.

Zum Schluss gewinnt die Inszenierung an Intensität. Voller innerer Spannung ist das Zusammentreffen des Dichters mit seiner Jugendliebe: Thomas Mann ist wie immer kontrolliert und souverän, aber sein Blick schweift weh in die Vergangenheit; Klaus Heuser wirkt konsterniert und verschüchtert. Der Vorhang schließt sich, und es wird hell im Parkett: Thomas Mann hält eine Rede an sein Volk. Es ist eine hochpolitische Rede. Wir schreiben das Jahr 1954, doch diese Rede ist auch im Jahre 2015 noch aktuell. Sie schlägt einen Bogen von der verbrecherischen Vergangenheit unseres Staates über die Wiedervereinigung bis hin zu einem eindrucksvollen Plädoyer für ein europäisches Deutschland. Nein, das ist nicht ein Einfall der „Düsseldorfer Fassung“ - das ist das Original.

Noch ein letztes Mal blickt die Aufführung zurück auf die verfehlte und noch lange verbotene Liebe zwischen zwei Männern. Heuser hat eine letzte, drängende Frage: „Bin ich’s gewesen? War ich Joseph?“ Ja, tatsächlich war er wohl Vorbild für diese große literarische Figur. Wehmütig endet der Abend, der so lange kaum Emotionen weckte.