Wird Mephisto in Düsseldorf zum Schlüssel-Drama?
Lange vor Spielbeginn öffnen sich die Türen zum Zuschauerraum und wer eintritt, sieht überrascht den Vorhang offen, den Blick frei auf die große Bühne und im Hintergrund einen schweren roten Samtvorhang. Rechts und links je fünf Garderobentische, glühbirnenumrahmt – atmosphärisch wie wir es aus Filmen über die alten Broadwaytheater kennen. Schauspieler in flatternden Bademänteln - offensichtlich mit der Maske beschäftigt - kommen und gehen. Aus dem Off tönt gedämpftes, unverständliches Stimmengewirr vermischt mit leisen Songs.
Wo sind wir? Vor der Bühne? Auf der Bühne? Hinter der Bühne? Wenig später wissen wir es: Das „wahre“ Theaterpublikum sitzt auf der anderen Seite, hinter dem schweren Vorhang, wir hören sein imaginäres Klatschen und Lachen. Wir dagegen befinden uns „hinter der Bühne“: zunächst in Hamburg, dann in Wien und letztendlich - nach etwa einer Stunde - im Preußischen Staatstheater in Berlin. Hendrik Höfgen, alias Gustaf Gründgens, ist angekommen: ganz oben!
Der Bühnenarbeiter knipst die Lichter aus an den Gardarobentischen all derer, die auf der Strecke blieben: ausgestiegen, emigriert, in Haft und Folterkellern der Gestapo umgekommen, erschossen, verschollen. Die Garderoben werden nicht mehr gebraucht, die Bühne dreht sich, es geht weiter auf der Vorderbühne mit Mephisto. Die Atmosphäre verdichtet sich. Und wenn jetzt der Schauspieler Moritz Führmann in der Gründgens-Mephistomaske den Goethetext spricht oder gelegentlich sein Handeln reflektiert und zu rechtfertigen versucht, dann denkt keiner mehr an Hendrik Höfgen, dann lenkt der Regisseur unseren Blick auf den Schauspieler, Regisseur und Theaterintendanten Gustaf Gründgens. Schulte-Michels tut das ohne zu denunzieren. Doch wenn er ihn sagen lässt: „Von innen heraus durchhöhle ich die Macht“, oder „ich habe einen Menschen gerettet. Das ist eine gute Tat“, dann klingt der Selbstzweifel durch und der Versuch einer Sinnfindung.
Die Düsseldorfer Inszenierung zeigt die Positionierung eines „Stars“ im korrupten Machtsystem und zugleich die Ambivalenz eines Menschen zwischen Opportunismus, Egoismus, Verunsicherung und versuchter Rechtfertigung. Und Moritz Führmann „brennt“ in dieser Rolle, gibt sie nachdenklich, hoch sensibel und kraftvoll zugleich. Seine intensive Präsenz und Glaubwürdigkeit beherrschen das Geschehen. Doch auch die übrigen Schauspieler überzeugen, ja funkeln in ihren wechselnden Rollen. Mit Klaus Manns ironisch-scharfsinnigen Texten sind sie Stichwortgeber und Mitspieler zugleich.
Trotz starker Streichungen verfolgt Schulte-Michels getreu das Geschehen des Romans, dessen voller Titel Mephisto – Roman einer Karriere lautet, unter dem Klaus Mann den Text 1936 im Exil veröffentlichte – zunächst als Vorabdruck in der Pariser Tageszeitung und dann als Buch in einem Amsterdamer Exilverlag. Als das Werk von der Zeitung als „Schlüsselroman“ angekündigt und zweifellos von den Lesern auch so verstanden wurde, protestierte Klaus Mann mit großer Entschiedenheit dagegen, da das unter seiner und unter der Würde seiner Leser sei. „Alle Personen dieses Buches stellen Typen dar, nicht Porträts“, ließ er „feierlich erklären“. Dennoch: bis heute versteht das Publikum die Geschichte des Theatermanns Hendrik Höfgen als „Schlüssel“ zu Gustaf Gründgens’ Karriere im Dritten Reich. Es waren die vielen Übereinstimmungen dieser beiden Figuren, die 1966 die Richter in letzter Instanz durch Bundesgerichtshof und Bundesverfassungsgericht die Veröffentlichung des Romans in der Bundesrepublik untersagen ließen. Sie stellten das vom Gründgens-Erben geltend gemachte postmortale Persönlichkeitsrecht (Gründgens war 1963 gestorben und hatte nicht geklagt!) über die Kunstfreiheit. Doch 1981 wurde das Urteil dann schlicht ignoriert, als die Pariser Theateradaption von Ariane Mnouchkin auf deutsche Bühnen kam und anschließend vielerorts nachgespielt wurde. Couragiert brachte dann auch der Rowohlt-Verlag eine Taschenbuchausgabe heraus, die unbeanstandet zum Bestseller wurde. (In der DDR erschien der Roman 1956 im Ostberliner Aufbau-Verlag.)
Ganz sicher sind die Romanfigur und der geheimnisumwitterte Theatermagier nicht in allem identisch: da wird beispielsweise aus dem Homosexuellen ein Masochist mit farbiger Geliebter. Manche Überzeichnung, die im Roman an Verleumdung grenzt, wird in der Bühnenfassung abgeschwächt oder ausgespart. Ganz bewusst lässt Schulte-Michels die von Klaus Mann zweifellos intendierte Abrechnung mit der Familie außen vor. Doch hier wie da ist die Ähnlichkeit der Figuren unverkennbar und gewollt.
Da begegnen wir einem verunsicherten, aber ehrgeizigen jungen Schauspieler, der in Hamburg nur mäßige, dann aber in Berlin große Erfolge erzielt. Der als Linksintellektueller antritt, mit Freunden und Kollegen ein „Revolutionäres Theater“ gründen will und seinen Hass auf die Nazis offen ausspricht, sodass er nach der Machtergreifung als „Kulturbolschewist“ mit Verfolgung rechnen könnte. Doch dann wird er zum Protegé einer Nazigröße, zum Star der neuen „Eliten“ und zum Intendanten des Staatstheaters Berlin, der – wenn es der eigenen Position nicht schadet – durchaus seine Hand schützend über Bedrohte hält. Soweit könnte es der exemplarische Aufstieg irgendeines talentierten Opportunisten sein. Und soweit könnte es eine zufällige Übereinstimmung der Gründgens-Biografie mit der Karriere des Roman-Höfgen sein.
Doch nicht Höfgen ist der Titelheld sondern Mephisto: Der funkelnde, zwielichtige Verführer, der diabolische Blender und Versucher, eben die Figur, mit der sich für viele die Schauspielerlegende Gründgens verbindet. Über dreißig Jahre lang hat er diese Rolle immer wieder gespielt, es heißt mehr als 350 mal. Immer in der gleichen Maske. Vielen ist sie zum Inbegriff dieser Figur geworden: Der Teufel, der Goethes Gelehrten in Versuchung führt. Auch in Düsseldorf hat er sie 1954 inszeniert und gespielt. Und wenn Klaus Mann seine Pfeile auf diese Kunstfigur abschießt, wird aus dem Nazi-Karriereroman leicht ein Agitationsroman. Und dann interessiert auch die Entschlüsselung der anderen Figuren: Barbara Bruckner (Erika Mann, 1926 bis 1929 Gründgens’ Ehefrau), Dora Martin (Elisabeth Bergner), Ministerpräsident und Lotte Lindenthal (Göring und Frau), Professor (Max Reinhardt).
Am Ende wagt Klaus Mann (1936!) einen kühnen Blick in die Zeit nach dem Untergang des Regimes und lässt seinen „Helden“ zynisch prophezeien: „Jedes Regime braucht das Theater! Ergo sum! Ich bin unentbehrlich!“ Für Gründgens sollte er recht behalten. Doch Roman und Stück enden vorerst mit der bedrückend resignierenden Erkenntnis: „Ich bin ein Affe der Macht und ein Clown der Zerstreuung der Mörder und doch nur ein ganz gewöhnlicher Schauspieler.“
Das Düsseldorfer Premierenpublikum bedankte sich für einen beeindruckenden, bewegenden Theaterabend mit langem, begeistertem Applaus bei allen Mitwirkenden und bedachte Führmann darüber hinaus mit herzlichen Bravorufen.