Im Frühling heizt man nicht
Ein Nashorn gibt es in diesem Zoo nicht mehr. Es ist vor einiger Zeit gestorben - vielleicht, so glaubt das Murmeltiermädchen, weil es etwas gesehen hat, das es ganz traurig machte. Vielleicht aber auch, wie Papa Pavian sagt, weil es sein langes Horn zu tief in Sachen gesteckt hat, die es nichts angehen. Bären gibt es auch nicht mehr in diesem Zoo. Der letzte Bär, so erfährt man nach und nach, ist geflüchtet, weil er es nicht mehr ausgehalten hat. Auf der Flucht wurde er wohl getötet. Doch jetzt kommt ein neuer Bär an, eine Bärin genauer gesagt, eine hübsche dazu - und eine nachdenkliche. Die Bärin stellt Fragen. Und sie schaut hin.
Den Zoo, in dem Jens Raschkes im Jahre 2014 mit dem Deutschen Kindertheaterpreis ausgezeichnetes Stück Was das Nashorn sah, als es auf die andere Seite des Zauns schaute spielt, hat es tatsächlich gegeben. Es war „ein Zoo in einer Stadt, die allerdings nur aussah wie eine Stadt.“ In einer Stadt mit hässlichen Häusern, in der es zwei Arten von Einwohnern gab: die Gestiefelten und die Gestreiften. Raschkes Stück spielt in dem Zoo, der im Jahre 1938 am Rande des Konzentrationslagers Buchenwald angelegt wurde - zur Belustigung der Kinder des dort beschäftigten Wachpersonals sowie der Bürger aus Weimar und Umgebung. Auf der anderen Seite des Zauns herrschte eine Regel: „Gestiefelte bestrafen Gestreifte.“ Nashörner, Bären und andere Zeitgenossen, die zu genau hinschauten und sich gar eigenständige Gedanken machten über das, was dort passierte, gingen ein Risiko ein.
Auf der Bühne des Jungen Düsseldorfer Schauspielhauses liegt ein riesiger Haufen alter Kleider. Nicht erst seit den Installationen von Christian Boltanski ist das eine Metapher: Erwachsene, vielleicht auch ältere Jugendliche denken an die Kleider der vergasten Häftlinge. Jüngere Kinder haben andere Assoziationen - egal. Auf dem Kleiderhaufen toben die Tiere - sie lausen sich, sie stoßen originelle Tierlaute aus, sie hüpfen und kreischen. An diesem nachdenklich machenden Abend werden kleinere Kinder abgeholt mit den Bildern und Geräuschen eines lustigen Tierparks. Einige werden schon über das vordergründige Geschehen hinausschauen - die meisten der Jüngeren zu diesem Zeitpunkt wohl nicht. Ebensowenig wie die Tiere, die von Papa Pavian zum Wegschauen und Verdrängen angehalten werden. Denn Papa Pavian will kein Risiko für seine große Tierfamilie. Im Hintergrund aber könnte man den großen Zaun entdecken. Der „ist nicht für die Tiere im Zoo“, sagt Herr Mufflon. Er ist für die Gestreiften, von denen wir zwei im Halbdunkel auf der rechten Seite der Bühne sehen: mager, ohne Körperstraffung. Und das nicht nur, weil es sich in Wahrheit um Puppen handelt!
Maëlle Giovanetti, die charmante Bärin, fragt sich, warum es auf der anderen Seite des Zauns zweibeinige Zebras gibt. Sie zieht ihr Näschen kraus: „Irgendwas stinkt hier!“ Herr Mufflon, einer von den Wegschauern, erwidert schnell: „Stinktier hammer koans“ - Thema erledigt. Aber über der Bühne endet ein großes Ofenrohr, aus dem ab und zu orangefarbener Rauch quillt. „Die Öfen da drüben - damit wird geheizt“, wissen die Verdrängungskünstler. Doch die Bärin überlegt: „Es ist Frühling, da heizt man nicht.“ Das Murmeltier steckt den Kopf in den Sand, als die Frage nach dem Nashorn aufkommt. Doch die Bärin, der Neuankömmling, hat den Blick von außen, sie ist unvoreingenommen und noch nicht mit der Notwendigkeit der Verdrängung konfrontiert worden. Sie ist die Intellektuelle, Nachdenkliche, Selbstbestimmte, die sich über das geringe Problembewusstsein der übrigen Tiere wundert. Aber auch Papa Pavian ist weder blind noch dumm. Auch er hat ein Konzept: Es heißt: Terrain sichern, Überleben in einer im Großen und Ganzen angenehmen Umgebung verteidigen - gleich wer auf der anderen Seite des Zauns in Not ist. Einmischung bringt Ungemach. Wer mag, kann weiterdenken - an die Flüchtlings-Problematik unserer Tage: Wer wegschaut und die Menschen auf der anderen Seite des Zauns nicht sieht, kann die Annehmlichkeiten unserer Gesellschaft viel freier genießen … - Alexander Steindorf als Pavian und Maëlle Giovanetti als Bärin sind die Antagonisten der Aufführung, und sie sind gleichzeitig die herausragenden Schauspieler in einem großartigen, weit über dem üblichen Niveau eines Kinder- und Jugendtheaters agierenden Team. Beide Figuren werden tragisch enden. Doch das Hinschauen, das aktive Agieren gegen offensichtliches Unrecht bringt den Zaun zum Einsturz und das Unrechtsregime ins Wanken, während sich das Anbiedern am Ende nicht auszahlt.
Raschkes Stück und Seeger-Zurmühlens Inszenierung thematisieren den Konflikt zwischen Mitläufertum und Zivilcourage - und sie machen ein Diskussionsangebot. Natürlich liegt eine Wertung nahe: Einmischen ist immer die heldenhaftere Haltung, die moralisch höherwertigere Option. Aber brillant arbeitet die Inszenierung heraus, dass Einmischen auch einen Preis hat. Sie stellt die Frage nach dem richtigen Maß zwischen Anpassung und Widerstand, zwischen moralischem Handeln und Selbsterhaltungstrieb. Es ist eine Frage, die sich ganz plötzlich in unserem Alltagsleben stellen kann: Was tut man, wenn in der Straßenbahn alkoholisierte Brutalos sich über wehrlose Passagiere hermachen? Aktives Eingreifen kann das eigene Leben kosten, Nichtstun das fremde. Die Lehrer, die mit ihren Schulklassen diese Aufführung besuchen, haben ein weites Feld für Diskussionen in der Nachbereitung ihres Theaterbesuchs.
Christof Seeger-Zurmühlen und seine Ausstatterin haben großartige Bilder gefunden, bunt, witzig und ironisch, in zunehmendem Maße geheimnisvoll, düster und angsteinflößend. Poesie und Märchen, aber auch furchtbare Alpträume stürzen auf die Zuschauer ein. So wird die Aufführung gleichzeitig zu einem intellektuellen, einem visuellen und einem emotionalen Erlebnis. Durchdringend klingt das rhythmische Marschieren der Gestiefelten. Es gibt eine erschreckende Choreografie der toten und verletzten Gestreiften, nachdem die Gestiefelten in die Menge geschossen haben. Wenn kurz darauf der Schornstein dicke orangene Wolken ausstößt und die Opfer ihre gestreiften Puppen wie Wolken über ihren Köpfen gruppieren, hat das eine geradezu grausige Poesie - „Bei Müllers hat’s gebrannt, brannt, brannt“, hatten die Tiere zuvor noch gesungen … Die Kinder müssen das noch nicht verstehen, die Erwachsenen packt das Grausen. Zwischendurch singt Maëlle Giovanetti eine Hymne an Che Guevara, dichter Nebel wallt bis in die ersten Reihen des Publikums, Flammen schlagen aus dem Zaun, und der Showdown wird als spannende Mauerschau erzählt. Jens Raschke und die Weimarer Uraufführung haben das Stück für Kinder ab 9 Jahren empfohlen; die Düsseldorfer Aufführung hat die Altersempfehlung auf elf Jahre angehoben. Tatsächlich aber richtet sich die Aufführung wohl eher an ein älteres Publikum; auch Erwachsene werden die Inszenierung schätzen und Anregungen daraus mitnehmen. Kinder werden viele der Metaphern und Szenen nicht durchschauen, aber die geschickte, vielschichtige Anlage der Bühnenerzählung erlaubt auch ihnen eine schlüssige Interpretation. Für Lehrer ist diese Inszenierung ein unerschöpflicher Steinbruch für die Vermittlung von historischen Fakten, für die Diskussion über Ethik und Moral in Politik und Alltag sowie für das Erläutern der Bedeutung von Metaphern in der Kunst. Hingehen - aber vielleicht doch erst ab 13.