From Sara with Trash
„Ich liebe Lessing“, ruft Matthias Buss als Arabella immer mal wieder aus. Wer seinen Lessing liebt, der schiebt: Wir wissen zwar am Ende des zweistündigen Dresdner Sara Sampson Kabaretts noch immer nicht, ob auch Regisseur Sebastian Kreyer seinen Lessing liebt, aber beim Schieben oder Ziehen müssen fast alle mal ran. Unter abgenagten Tannen stehen im Hintergrund der Bühne drei altersschwache Wohnwagen, und damit das Publikum ab und zu mal gucken kann, was sich in denen tut, müssen die Wagen irgendwann näher zur Rampe bugsiert werden. Im linken Wagen wohnen, streiten und kopulieren Mellefont und seine Lebensabschnitts-Bitch Sara Sampson, im mittleren residiert der ob Saras verantwortungsloser Seitensprünge verzweifelte aufrechte Norddeutsche Sir William (Vater der Bitch), und im rechten fristen die Zicke Marwood und ihre gemeinsam mit Mellefont gezeugte Tochter ein eher trostloses Dasein. Die Verbindung von Marwood und Mellefont stand nie unter einem guten Stern, denn erstens ist Mellefont schon seit Lessings Tagen ein unverbesserlicher Frauenheld, und zweitens ist Töchterlein Bella nicht nur ein furchtbar nerviges Blag, sondern zudem geistig behindert. Das allerdings nicht von Lessings Gnaden, sondern von Kreyers Ungnaden.
Miss Sara Sampson gilt als das erste bürgerliche Trauerspiel der deutschen Literatur. Lessing, eher ein Konzeptkünstler mit hehrem idealistischem Ansatz denn ein Dramatiker mit Gespür für spannende Plots, brüstete sich damit, den reichlich rührseligen und moralischen Text in wenigen Wochen zu Papier gebracht zu haben. In einem Anflug von Selbstironie spottete er, es sei ja nicht so schwer, alte Weiber zum Heulen zu bringen. Sebastian Kreyer aber will keine Weiber zum Weinen, sondern seine (inzwischen ganz beträchtliche) Fan-Gemeinde zum Lachen bringen. Offenbar glaubt er, auch das sei eine der leichteren Übungen. Der erfahrene Theatermacher aber weiß: Anstrengung tut da umso mehr not, denn nichts ist schwieriger als einem halbwegs anspruchsvollen Publikum eine gute Komödie unterzujubeln.
Kreyer setzt auf Trash. Trash ist albern, kann aber durchaus ein wirksames Mittel sein, ein Stück mit einer heute arg veralteten Moralvorstellung ins Heute zu transportieren. Wenn die schlecht gelaunte, kratzbürstige Sara in legerer Nachtkleidung aus dem Wohnwagen krabbelt und den fein gedrechselten Original-Text spricht, den Lessing seinem Ideal eines reinen Mädchens in den Mund gelegt hat, ergibt dies durchaus einen reizvollen Kontrast. Und wenn Marwood auf Mama Medea macht oder als Mutter Courage den Wohnwagen zieht, schlägt die Inszenierung Brücken zu anderen Epochen der Theaterliteratur, die zu beschreiten zwar mangels gedanklichen Bezugs zu den zitierten Stücken in die Irre führt, aber dem Zuschauer dennoch Freude bereitet. So ist man eine ganze Weile bereit, auch den Albernheiten mit Sympathie zu folgen: dem untersetzten, unsportlich wirkenden Waitwell im Tennisdress (ebenfalls Matthias Buss), dem verschwörerisch mit Mutter Marwoods Kassiber zum Nachbar-Camper robbenden Bella-Blag, der Geschichte mit dem Bügeleisen, das Marwood als Weihnachtsgeschenk bekommen hat oder auch den Kalauern, die die Schauspieler aus dem wörtlichen Hinterfragen des Lessing-Textes ziehen. Briefe „from Sara with Love“ quittieren wir lachend; regelmäßig in eine Aufführung eingestreute Popsongs mögen wir sowieso, denn sie lenken so schön ab, wenn einem Regisseur nicht viel Zündendes eingefallen ist. Doch spätestens nach dem endlos ausgewalzten billigen Ehekrach von Marwood und Mellefont, den Kreyer ohne jedes Gespür für den Rhythmus der Aufführung inszeniert hat, merken wir: Die Banalisierung von Lessings Text, die Kreyer im Sinn hatte, ist gelungen, aber der Versuch, dies mit viel Witz und Schwung einhergehen zu lassen, scheitert.
Nur teilweise liegt dies an der Ausgestaltung der Figuren. Marwood kämpft bei Cathleen Baumann mit Hilfe pompöser Hutmode und Tattoos vergeblich gegen den Eindruck des baldigen Verblühens ihrer Schönheit. Aber während Kostümbildnerin Maria Roers sie phantasievoll ausstaffiert hat, macht Baumann auf billigen Serien-Star: Aufgesetzt, überdreht, mit gnadenloser Hysterie verrät sie ihre Figur an eine RTL-Comedy schlimmsten Kalibers. Unwesentlich weniger nervenzerfetzend gibt - wie erwähnt - Matthias Buss seine Arabella. Gemeinsam mit Ben Daniel Jöhnks Sir William streichelt er als Waitwell mit zurückhaltendem Witz schon eher unser strapaziertes Nervenkostüm. Ines Marie Westernströer vermag mit zunehmender Spieldauer momentweise sogar zu bezaubern: Ihre Sara ist halt noch ein pubertierendes Girlie. So schlecht gelaunt sie zu Beginn aus dem Caravan stolpert, so süß und naiv wirkt sie bei ihren Versöhnungsversuchen mit ihrem Vater, so unverkrampft verliebt umarmt sie ihren Mellefont. Die ist keine Bitch: Die probiert sich einfach noch aus! - Christian Clauß ist der Lichtblick der Inszenierung. Ein oberflächlicher Filou ist auch er - rollenbedingt. Aber Clauß gestaltet seine Figur am seriösesten; man glaubt ihm geradezu anzumerken, wie er sich stemmt gegen den allzu anstrengungslos auf die Bühne gekippten Trash. Von Beginn an spielt er mit ironischer Distanz, und mit eben dieser Distanz stellt er seinen Astralkörper immer wieder bei sportlich eindrucksvollen Fitnessübungen zur Schau. Es könnte ja noch ein Mädel Mellefonts Sex Appeal übersehen haben!
„Sara Sampson, meine Geliebte - wie viele Seligkeiten liegen in diesen Worten! - Sara Sampson, meine Ehefrau - die Hälfte der Seligkeiten ist verschwunden“, seufzt Mellefont. Natürlich zielt Kreyer auch mit diesem Original-Lessing-Zitat auf einen Lacher. Aber solchen Sätzen kann man nachschmecken. So wie Clauß sie spricht, kann man seine eigene Beziehung auf die Gültigkeit dieser Sätze überprüfen. Mehr solche mit ironischer Distanz, aber Respekt für den Text gesprochene Sentenzen hätten dem Abend gut getan. Schon mehr Reflexion, mehr Präzision bei den Gags hätte geholfen. Die Schluss-Parodien sind zum Beispiel recht gelungen: Bella-Baby als Rumpelstilzchen mit Hochsteckfrisur, das Sara zu den Klängen von „Sacrifice“ mit diebisch-debilem Grinsen das Gift bringt. Marwood, die ihren Mutter-Courage-Karren, ordnungsgemäß mit D-Schild versehen, gen Dover zieht. Gleich mehrere - und, wenn man will, auch mehrdeutige - Popsongs kommentieren nun in witzig-ironischer Form die Soap, die Kreyer aus Lessings vermeintlicher Liebes-Schmonzette destilliert hat.
Aber letztlich hat sich Kreyer vor Lessing in eines seiner ewigen Urlaubs-Ressorts geflüchtet. Schon Tennessee Willams‘ Glasmenagerie hat Kreyer in Köln mit einem gigantischen amerikanischen RV und ganz vielen Pop und Country Songs inszeniert. theater pur resümierte: Der Inszenierung „fehlt Timing und Zeitmanagement; dem Rhythmus der Szenen- und Stimmungswechsel geht jede Musikalität ab …, und viele Albernheiten entbehren jeder dramaturgischen Rechtfertigung“ . Unter Lanzarote-Feeling ließ Kreyer in seiner Aufführung von Juli Zehs Nullzeit am Theater Bonn die Doppelbödigkeit der Vorlage verschwinden. Anstelle einer rechtsphilosophischen Problemstellung fand theater pur nur „einen netten, komödiantischen Urlaubs-Krimi mit jeder Menge Sommer-Hits und lustigen Regie-Einfällen.“ . Nur eine Woche nach dem Gütersloher Sampson-Gastspiel berichtet der Kollege Günther Hennecke an dieser Stelle von Kreyers jüngstem Streich in Zürich. Seine Uraufführung von Nolte Decars Der neue Himmel sei „Ballermann auf theatralischer Ebene“ und „Südseeinsel mit Palmenkitsch“ . Köln, Bonn, Dresden, Zürich - hoffentlich hat Kreyer seine Urlaubsreise durch die deutschsprachige Theaterwelt bald beendet. Er sollte endlich in der Welt der ernsthaften Arbeit ankommen.
(Dietmar Zimmermann)