Familientragödie in einem grausamen Krieg
Über die gegenwärtigen Flüchtlingstragödien ließen sich tausende von kleinen und größeren Dramen schreiben. Und nicht nur über sie. Wajdi Mouawad nennt das Handlungsumfeld von Verbrennungen, den libanesischen Bürgerkrieg, nirgends explizit beim Namen, doch sind die Bezüge unzweideutig. Im Programmheft einer der vielen Inszenierungen seit der Uraufführung 2003 in Montréal wird sogar eine präzise Bilanz gezogen: 170.000 Tote, 300.000 Verwundete, 20.000 Vermisste, 800.000 Vertriebene. Aber solche Exaktheit ist dem kanadischen Autor libanesischer Herkunft nicht besonders wichtig, wie er generell die Bühne zwar als moralische Anstalt versteht, ihre unmittelbar politische Wirkung aber bezweifelt. „Das Theater ist kein Ort für mich, um diese Welt zu verändern, sondern vielmehr einer, um Zeugnis abzulegen von unserer Gegenwart.“
Das Stück beginnt damit, dass die Zwillingsgeschwister Jeanne, eine Mathematikerin, und Simon, ein Amateurboxer, das Testament ihrer verstorbenen Mutter Nawal ausgehändigt bekommen. Weiterhin sollen sie Briefe an den verschollenen Vater und einen ihnen bislang unbekannt gebliebenen Bruder weiterleiten. Nur wiederwillig folgen die beiden diesem Auftrag, da sie das totale Schweigen der Mutter während deren letzten Lebensjahren nicht verstehen und akzeptieren konnten.
Die Recherchen konfrontieren sie nicht nur mit den Gräueln des Krieges, sondern auch mit einer Familiengeschichte von archetypischen Schicksalsdimensionen. Mutter Nawal verliebte sich einst in den Flüchtlingsjungen Wahab und bekam einen Sohn, den sie Nihad nannte. Ihre geschockte Mutter ließ das Kind in ein Waisenhaus bringen. Gegen ihre auch von der Gesellschaft massiv geteilte Strenge versucht sie sich zu wehren und folgt dem Rat der Großmutter, sich durch das Lernen von Schreiben und Lesen intellektuelle Überlegenheit anzueignen und damit Kraft zur Gegenwehr zu finden. Das soll sie auch befähigen, den Namen der Verstorbenen auf den leeren Grabstein zu setzen.
Nawal verirrt sich zusammen mit einer Freundin (Sawda) in den Wirrungen des Krieges und gerät dabei in einen „Kreislauf der Rache“. Obwohl sie der Gewalt abschwor, kam sie in die Situation zu töten. Sie wird in ein Gefängnis gebracht, wo sie dem sadistischen Aufseher Nihad ausgeliefert ist. Die Folgen einer Vergewaltigung sind die Zwillinge Jeanne und Simon, die ihr abgenommen werden. Erst viele Jahre nach der Freilassung findet sie die Kinder wieder und beginnt mit ihnen eine neue Existenz im Ausland. Der erhoffte Friede wird aber zunichte gemacht, als Nawal herausfindet, wer ihr Peiniger und Schwängerer war, nämlich niemand anderes als ihr Sohn Nihad, verkommen zu einem kaltblütigen Verbrecher. Der Ödipus-Mythos in grausamster Vergegenwärtigung.
Mouawads Text wurde 2009 als Hörspiel verarbeitet und ein Jahr später auch verfilmt („Indices“). Viele Bühnen spielten das Stück. Dass es nun auch am Kölner Bauturm-Theater herausgekommen ist, entspricht der politisch wachen Dramaturgie seines Leiters Gerhardt Haag, der übrigens mit der laufenden Spielzeit seine rund 20 Jahre währende Intendanz beenden wird, dem Hause aber u.a. als Darsteller erhalten bleibt.
Kontinuität auch bezüglich des Regisseurs Rüdiger Pape, der schon häufig am Bauturm inszeniert hat. Er belässt dem Text seine Sprunghaftigkeit und Doppelbödigkeit, integriert auf der mit Blecheimern zugemüllten Bühne (Flavia Schwedler) auch den Musiker Raimund Groß, dessen geräuschhafte Sounds der Aufführung einen hörspielartigen Charakter geben. Auch Momente des Dokumentartheaters kommen ins Spiel. Dennoch fehlt es der Aufführung nicht an dramatischer Stringenz; es pulsiert gehörig. Die durch die Bank bestechenden Darsteller (Emilia Haag, Rebecca Madita Hundt, Alexander Stirnberg, Patric Welzbacher) springen zwischen unterschiedlichen Personen hin und her. Es erfordert keine geringe Konzentration, bei diesem Wechselspiel die realen Vorgänge im Auge zu behalten. Doch bleiben die fast zwei pausenlosen Stunden emotional immer bohrend und bedrängend.