Die Banalität des Bösen
Im Sommer 2014 besuchte der Schreiber dieser Zeilen das Konzentrationslager Auschwitz / Birkenau. Es war unerträglich heiß und unerträglich rummelig. Ganz Europa schien die Sommerferien im KZ zu verbringen. Nur mit Kopfhörern konnte man der Führung durch das Lager folgen. Unendlich monoton klang die Stimme der Führerin. Wie soll ein Auschwitz-Besuch unter diesen Umständen aufrütteln?
Nun, genau so: Drei Stunden lang quälten wir uns durch die Lager-Baracken und -Gassen, und unablässig drang diese monotone Stimme in unser Ohr, unablässig erzählte sie von den grauenvollen Geschehnissen, die sich an diesem Ort vor siebzig Jahren abgespielt hatten. Langsam sickerten die Schrecken der Vergangenheit in jede Hirnwindung. Sie legten sich auf die Seele, ließen das Grauen Realität werden. Die Stimme steigerte die Bedrückung ins Unerträgliche. Sie hatte die gleiche Wirkung wie der harmlose Wassertropfen, der dem festgeschnallten Folter-Opfer stundenlang immer auf die gleiche Stelle des Körpers tropft.
Genau so funktioniert Ulrich Hubs Inszenierung am Freien Werkstatt Theater Köln. Eine karge, hochkonzentrierte und eben dadurch äußerst wirkungsvolle Aufführung hat der Regisseur mit seinen vier Schauspielern geschaffen. Als „Oratorium in elf Gesängen“ bezeichnete Peter Weiss sein dokumentarisches Drama über den ersten Frankfurter Auschwitz-Prozess, der in den Jahren 1963-65 stattgefunden hatte. Die Ermittlung sollte zunächst Teil eines umfassenden Theater-Projekts werden, das in seiner Struktur Dantes Göttlicher Komödie folgten sollte. Der Text beruht im Wesentlichen auf den Protokollen des Journalisten Bernd Naumann, dessen ausführliche und prägnante Berichte in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung für kontroverse Diskussionen sorgten, sowie auf eigenen Aufzeichnungen von Peter Weiss, der den Prozess persönlich beobachtete. So nüchtern (und zum Teil enervierend langatmig) der Original-Text scheint, so kunstvoll ist er bei näherem Hinsehen arrangiert.
Ulrich Hub hat den Text für seine Kölner Inszenierung auf 90 Minuten Spieldauer eingekürzt und auf vier Schauspieler verteilt, die sowohl die Rollen der Angeklagten als auch die der ermittelnden Richter und Staatsanwälte übernehmen. Seit den Zeiten der Co-Uraufführung von Peter Palitzsch im Jahre 1965 am Staatsschauspiel Stuttgart wird dies als Hinweis auf die Austauschbarkeit von Tätern und Opfern interpretiert - eine pessimistische, aber wohl auch außerhalb des nationalsozialistischen Zusammenhangs gültige, weil die Schwäche der menschlichen Natur berücksichtigende Sichtweise. Das Genre des „Oratoriums“ bedient Hub ausschließlich durch mehrfaches, melodisches Singen eines deutschen Volksliedes: Man achte auf den Liedtext von „Der Mond ist aufgegangen“!
Das Brechtische der Vorlage hat der Regisseur dem Text dankenswerterweise genommen. Überraschenderweise schlagen Marius Bechen, Eva Horstmann, Holger Stolz und Rike Will lange Zeit über den Ton eines lockeren Parlandos an. Nicht bohrende Fragen oder wütende Vorwürfe bestimmen den Ton der Anklagevertreter, sondern nur anteilnehmendes Interesse. In empörender Selbstverständlichkeit wird geantwortet. Der Sinn der Schornsteine im Lager? - „Ich habe gedacht, das sind Bäckereien …“ Erinnerungen werden verdrängt, negiert oder geschönt. Misshandlung der Die Häftlinge? Maßgeschneiderte Anzüge hatten sie, und sie brauchten ihr Haar nicht scheren zu lassen. „Bei mir sangen sie Lieder“, sagt Rike Will einmal. An Musikkapellen erinnert man sich. Locker flockig spricht vor allem Holger Stolz, der als ehemaliger Blockführer über eine raue Schale verfügt und seinen Einsatz im Lager eher als bestandenes Abenteuer zu betrachten scheint, über die Vergangenheit. Doch beim Schönreden wird es nicht bleiben. Als er auf seinen tödlichen „Spezialschlag“ angesprochen wird („flach gegen die Aorta“), haut ihn das aus den Puschen. 90 Minuten lang kommt er darauf zurück - seine geradezu panische Beteuerung „Ich hatte keinen Spezialschlag!“ dient nicht nur der Verteidigung vor Gericht, sondern auch der Aufrechterhaltung der eigenen Selbstachtung, der Flucht vor den eigenen Taten. Er scheint von Schuldgefühlen verfolgt und traumatisiert zu sein, ist aber dennoch in der Verdrängung seiner Vergangenheit gefangen.
Bald darauf ist Eva Horstmann als Lagerärztin die erste, die unter den Fragen zusammenbricht. Es geht um ein Thema, das uns aus den jüngsten Auschwitz-Prozessen gegen Oskar Gröning und mehr noch gegen den kanadisch-ukrainischen Helfershelfer John Demjanjuk in frischer Erinnerung ist: um den Dienst an der Rampe. Er wird von allen geleugnet, doch die Lüge bricht schnell durch die Erzählung kleiner Episoden zusammen. Die eigene Rolle wird marginalisiert; man beruft sich auf den Befehlsnotstand. Und dann verraten sie sich wieder, die Angeklagten: „Ich habe entschieden, dass …“ - Die Doppelmoral von Kirche und Justiz wird angesprochen, die Mit-Täterschaft der deutschen Industrie („zahlten Löhne - nach bestimmten Tarifen“). Von grimmigem, den Zuhörer schmerzendem Witz sind solche Aussagen, und das harmonisch von der Bühne geschmetterte deutsche Liedgut reflektiert diesen grimmigen Witz perfekt: „So sind wohl manche Sachen, die wir getrost verlachen, / weil unsre Augen sie nicht sehn.“
„Ungeheuer ist vieles, doch nichts ist ungeheurer als der Mensch“, heißt es bei Sophokles. Der ganz normale alltägliche Konversationston, den die Schauspieler die meiste Zeit über anschlagen, während die unvorstellbaren Gräuel immer klarer zutage treten, zerrt irgendwann an den Nerven - wie der besagte Wassertropfen, der zur Folter werden kann. Es ist die Banalität des Bösen, die Grausen macht. Doch nach und nach drehen die Schauspieler an der Schraube des Ungeheuerlichen. Sie geben ihren Emotionen mehr Raum; sie spielen „Schwarzer Tod“ nach dem Spitznamen des Assistenten der Lagerkommandantur. Ein Kind kommt zum Schluss auf die Bühne, singt ebenfalls ein Lied. Das Kind hat die Gnade der späten Geburt. Die Eltern / Angeklagten versuchen ihm zu erklären, was seinerzeit geschah. Jedes dritte Wort in ihrer Schulzeit, so sagen sie - und haben damit sicher recht - handelte von denen, die Schuld waren. Doch es folgen die Worte, an denen wir noch auf dem Heimweg kauen: „… die mussten doch ausgemerzt werden. Und es ist doch besser, im Gas als im Bombenhagel zu sterben.“
Längst ist der Mond aufgegangen, auch über Köln. Wie endete noch das Lied: „Verschon‘ uns, Gott, mit Strafen und lass uns ruhig schlafen …“