Camping und Freundschaft als Dokumentar- und Expertentheater
Es ist Samstagnachmittag, es bleibt noch Zeit bis zum Vorstellungsbeginn um 14.30 Uhr. Man führt uns ins „Foyer“ der Spielstätte PACT Zollverein auf dem weitläufigen Gelände des UNESCO-Welterbes. Da sitzen wir ein wenig verloren in der großräumigen, über-mannshoch weißgekachelten Halle auf in-die-Jahre-gekommenen Plüschsofas, trinken einen Kaffee und bewundern den gelungenen Mix aus moderner Technik und industriellem Charme dieser ehemaligen Waschkaue auf Schacht 1/2/8, die noch bis 1986 täglich von bis zu 3000 Kumpel als Umkleide genutzt wurde. Wir – das buntgemischte Publikum zwischen 3 und 80 Jahren – fragen uns, ob die Performance hier im Foyer stattfinden wird. Platz genug wäre da. Und dann kommen sie tatsächlich hereingetanzt, die jungen Akteure, übermütig einen Wasserball titschend, lachend und lauthals die Treffer zählend. Und schon packt mich ein großer, fröhlicher Junge aus Ghana bei der Hand und zieht mich ins Getümmel zum Mitmachen. Ein herrlicher Auftakt! Doch dann geht’s gemeinsam eine Etage höher: wiederum ein weißgekachelter Raum. Mein temperamentvoller Ghanaer greift zum Mikrophon, heißt uns willkommen, gibt Ratschläge, macht Scherze, verteilt Komplimente und plaudert wie ein geübter Moderator auf seinem „afrikanischen“ Englisch. Schließlich haben alle ihren Platz gefunden: die 72 Zuschauer in vier Reihen hintereinander, die 36 Akteure auf gemütlichen Sofakissen uns gegenüber unter riesigen Leinwänden, auf denen sie später ihre Berichte dokumentieren werden.
Die jungen Leute stellen sich vor: Namen und Heimatländer werden groß an die Wand projiziert, gleichzeitig winken sie uns zu, rufen auch einmal dazwischen, kurze, informative Gespräche werden eingeblendet, alles in rasantem Tempo bei bester Laune. Dann sind wir dran, das Eine oder Andere sollen wir bekennen. Gruppen-Selfis werden um die Wette geschossen, immer wieder werden die Zuschauer einbezogen, doch nie bedrängend, stets ausgewogen zwischen Nähe und Distanz. Das Ganze wird zu einem bunten Strauß witziger Sketche, mal präziser mal skurriler Kommentare, kurioser Videoszenen, erstaunlich offener Erlebnisberichte und immer wieder der verschiedensten, unglaublich kreativen Interviews: zu zweit, zu dritt, mit flottem Rollenwechsel oder in der großen Runde.
Wer aber sitzt in dieser Runde? Wie haben sie zusammengefunden?
Zunächst existiert da seit 2012 eine unter dem Vorgänger-Intendanten Goebbels ins Leben gerufene jugendliche Festivaljury aus Schülerinnen und Schülern verschiedener Gesamtschulen im Ruhrgebiet, die seit Jahren regelmäßig viele Aufführungen besucht, sie bespricht und bewertet. Diese etwa zwanzig Jugendlichen haben unter dem Namen MIT OHNE ALLES inzwischen ein eigenes künstlerisches Produktionsbüro bei der Ruhrtriennale und bilden in dieser Spielzeit auch den Kern des Projektes MILLIONEN! MILLIONEN! MILLIONEN!. Zusammen mit gleichaltrigen Asylsuchenden - bzw. erst seit kurzem in Deutschland lebenden Jugendlichen - haben sie sich mit der Frage beschäftigt, wer denn wohl die MILLIONEN sein könnten, deren Umarmung Friedrich Schiller und vor allem das Motto der diesjährigen Ruhrtriennale einfordern.
Um dieser Frage nachzugehen, sich kennenzulernen und dabei herauszufinden, was sie trennt und verbindet, waren die 36 Jugendlichen im Juni 2015 gemeinsam im Zeltlager. Die alltäglichen und -nächtlichen Episoden, emotionalen Erlebnisse und erarbeiteten Ergebnisse dieser Tage bilden im Wesentlichen den Stoff für die Aufführung. Dabei sind es nicht die Fakten, die uns über 90 Minuten in ihren Bann ziehen, sondern ihre unglaublich sensible, aufrichtige und zielführende Durchdringung und mitreißende Darbietung. Immer wieder gehen die Jugendlichen unbekümmert und unkompliziert auch diffizile Themen ihrer persönlichen Lebenssituationen an und werden in ihrer Offenheit und Ernsthaftigkeit zu überzeugenden Experten ihrer selbst.
Das besonders Anrührende, das sich an diesem Nachmittag durch alle Beiträge zieht - seien sie der reine Jux oder problembeladen –, ist die innige Freundschaft und Akzeptanz, die der Umgang miteinander ausstrahlt – alle Sprach- und Kulturbarrieren vergessend. Da bedurfte es nicht unbedingt der Auflistung der 3000 von der Gruppe entdeckten UMARMUNGEN zum Beweis. Man glaubt ihnen. Ihre gegenseitigen Umarmungen am Ende wirkten nicht wie eine Pointe der Regie, sondern wie ein Bedürfnis.
Und gerade deshalb, weil alles so scheinbar spontan und natürlich erscheint, soviel Spielfreude und Kreativität ausstrahlt, gebührt dem Regieteam unter Darren O’Donell, der Dramaturgie und Choreographie ganz großes Lob!
Zu hinterfragen bleibt allerdings der Eindruck, der wiederholt erweckt wurde, dass alle Teilnehmer im Zeltlager den Ramadan eingehalten hätten, ja, dass er sich geradezu wie eine dramaturgische Klammer um die Tage legte. Zum einen stimmt es faktisch nicht, zum Anderen dient eine solche Verwischung ganz sicher weder dem interkulturellen Austausch noch der Akzeptanz des Anderen.