Im Regen von Laboewangi
Die Bühne besteht aus einer großen, fast leeren Fläche. Und doch wirkt sie nicht karg. Da ist ein kleiner Tisch zur Linken; rechts und hinten stehen an den Wänden lange Kleiderstangen. An denen hängen die Kostüme, die die Schauspieler gelegentlich wechseln, vor allem aber baumeln dort in langen Reihen hölzerne Klanginstrumente, die zu dem atmosphärisch perfekten Sound dieses in der ehemaligen niederländischen Kolonie Java spielenden Theaterabends beitragen werden. Die Klänge der westlichen Zivilisation fängt Harry de Wit am Flügel ein - meist in ruhiger Harmonie, manchmal auch furios. Ansonsten: regnet es. Wer früh kommt, den belohnt das Leben: Minutenlang kann man die ein merkwürdiges Sehnen hervorrufende Bühneninstallation bewundern, bevor die eigentliche Aufführung losgeht. Dann wird ein Film angeknipst; in warmen Farben plätschert das Meer, rauschen die Wellen an allen drei Bühnenwänden. Die sonore Stimme von Hans Kesten beginnt zu erzählen.
Wir schreiben die Zeit um die Jahrhundertwende vom 19. auf das 20. Jahrhundert. Noch sind die Niederländer selbstsichere Kolonialherren. Sie leben in der festen Überzeugung, mit westlicher Kultur und der moderaten Entwicklung von Wohlstand und Zivilisation zur Beglückung der einheimischen Bevölkerung beizutragen. Aber wenige Jahre nachdem Louis Couperus‘ Roman „Die stille Kraft“ im Jahre 1900 erscheint, entwickelt sich, ausgehend vom einheimischen Adel und der lokalen intellektuellen Elite, die Idee eines eigenen Nationalstaates. Couperus (1863-1923), der als Kind fünf Jahre in Niederländisch-Indien verbracht hatte, schrieb seinen Roman binnen weniger Monate bei einem Besuch seiner Schwester und seines Schwagers, des Residenten von Pasuruan auf Ost-Java. Er, der sensible Schriftsteller, muss schon gespürt haben, dass es in der Bevölkerung rumorte. Geradezu visionär beschreibt Couperus bereits 1900, wie die stille Kraft der unterdrückten lokalen Bevölkerung im Einklang mit deren Riten und deren Aberglauben die Niederländer verdrängen wird. Insoweit ist „Die stille Kraft“ ein politischer Roman. Doch Louis Couperus, der sogenannte Thomas Mann der Niederlande, beschreibt mit großem Einfühlungsvermögen auch den Verfall einer Familie.
Gijs Scholten van Aschat gibt den Otto van Oudijck, den niederländischen Residenten im (fiktiven) javanischen Laboewangi. Wiewohl er sich selbst eine „Mittelmäßigkeitszufriedenheit“ attestiert, ist er ein Mann mit hohem Arbeitsethos und einer zwar distanzierten und kolonialistisch geprägten, aber aufrichtigen Liebe zu dem ihm anvertrauten Volk. Aufrichtig mag auch die Liebe zu seiner zweiten Frau Leonie sein, doch sei es die aus seiner nahezu ausschließlichen Fokussierung auf den Beruf erwachsende Distanz oder seien es einfach Ignoranz und Verdrängung: Leonies ausschweifende erotische Aktivitäten gehen unbemerkt an ihm vorbei. Lasziv vergnügt sich Leonie mit Theo und Addy. Ihr Stiefsohn Theo, der sich von seinem Vater missverstanden und vernachlässigt fühlt, ist ihre „weiße Liebe“; Addy de Luce, Spross einer französisch-javanischen Fabrikantenfamilie, ist die „braune Liebe“. In Addy ist auch van Oudijcks Tochter Doddy verliebt. Mingus Dagelets ist durchaus ein Hingucker für die weiblichen Theaterbesucher und er verfügt über großartige tänzerische Fähigkeiten, doch als „Halbblut“ scheint Addy dem Familienoberhaupt und Residenten eine denkbar falsche Besetzung in der Rolle eines potentiellen Schwiegersohns. Und damit berühren sich thematisch die private und die gesellschaftspolitische Seite der Geschichte: Denn der nicht unsympathische, aber zutiefst im rationalen westlichen Denken verhaftete van Oudijck verfolgt keinen integrativen Ansatz in seinem Regierungskonzept. Er versteht die Bedürfnisse der noch in alten Traditionen bis hin zu mystischen Zauberwelten lebenden einheimischen Bevölkerung nicht. So kommt es zum Konflikt mit dem ihm nur formal gleichgestellten Prinzen Soenario, dessen den Lastern der westlichen Zivilisation erlegenen Bruder er zu allem Überfluss entlässt. Einen pragmatischen, in Grenzen kolonialismuskritischen Gegenpol zu dem zunehmend prinzipienreiterischen van Oudijck bilden Eva Eldersma und Frans van Helderen. In der unverblendeten, optimistischen Pragmatikerin Eva (überzeugend Maria Kraakman) reift die Erkenntnis, dass das Zusammenleben von Niederländern und Einheimischen nicht funktionieren kann, wenn beide Ethnien sich nicht in ihrem kulturellen Verständnis aufeinander zubewegen; allerdings sieht sie sich selbst dazu ebenfalls nicht in der Lage. Unaufdringlich weist die Inszenierung damit auf eines der Hauptprobleme der heutigen Migrations- und Integrationspolitik hin. - Am Ende wird van Oudijck scheitern - als Resident und als Familienoberhaupt. Aber er wird bleiben auf der Insel, mit einer kinderreichen Einheimischen, einem großen Garten und einer Gießkanne. Unverstanden, heimatlos. Aber doch irgendwie mental an die Insel gekettet.
Den Sog, den die Insel Java entfaltet, kann der Zuschauer der Koproduktion von Ruhrtriennale und Toneelgroep Amsterdam nachvollziehen: Das „merkwürdige Sehnen“, das die Bühneninstallation beim Betreten der Spielstätte ausgelöst hatte, hält an. Regisseur Ivo van Hove und sein Team schaffen eine fiebrige Atmosphäre der Dekadenz, des süßen, genussreichen Lebens einer überreifen Gesellschaft kurz vor dem Verfall. Der Raum flirrt vor Hitze, Erotik und exotischem Zauber - es ist, als erlebten wir Viscontis „Tod in Venedig“ auf Indonesisch. Farb- und Stilberatung haben bei Kostümen und Licht einen exzellenten Job gemacht. Perfekt malen Harry de Wits Soundtrack und Jan Versweyvelds Lichtregie das Geschehen aus. Die Schauspieler agieren mit hoher Rollenidentifikation ausnahmslos auf Champions League Niveau. Immer wieder fällt der tropische Sommerregen; mal erfasst er die gesamte Bühne, mal gibt es lokale Schauer, und zum Höhepunkt der Wettershow entlädt sich ein veritables Tropengewitter mit Blitz und Donner und Strobolight - im prasselnden Regen sitzt Harry de Wit und spielt Klavier. Das bald von Kakerlaken befallen ist - der Untergang der niederländischen Kolonialgeschichte wird in wenigen Bildern unaufgeregt, aber eindringlich zusammengefasst.
Doch Tropensturm und Seebeben haben auch die Lebensbedingungen der Einheimischen zerstört. Die Niederländer planen Hilfsaktionen. Und agieren geradezu hilflos: Praktische Vorschläge werden verworfen; Otto, gefangen in traditionellen Vorstellungen, schlägt ein großes Benefiz-Fest vor - Abgrenzung anstelle von gemeinsamem Anpacken. Spätestens in diesem Moment begreift der Zuschauer, warum van Oudijck scheitern muss. Die stille Kraft der javanischen Bevölkerung entwickelt nun Magie. Halina Reijn, die perfekt zwischen Langeweile und lasziver Lust changierende Leonie, steht nackt an der Rampe und duscht - und plötzlich färbt sich das Wasser blutrot. Aberglaube wird Wirklichkeit. Oder ist es ein Alptraum, Nervenfieber? Ein Spiegel zerspringt - Spuk oder Steine? Ein Bett ist angeblich mit Kröten übersät, die ein langsam zersetzendes Gift absondern. Nobel geht die Welt zugrunde. Immer noch lebt die niederländische Gesellschaft im Überfluss. Doch das hat etwas von Götterdämmerung. Auch die Familiengeschichte kulminiert in einer Serie von gegenseitigen Erniedrigungen. Aber schön muss es sein - Hedda Gabler hätte ihre Freude. Man behält die Nase im Gesicht. Und verliert doch auf der ganzen Linie.