Eine gottlose Welt ohne Gerechtigkeit und Liebe
Rose Bernd ist eine junge Magd, die nach dem Willen ihres pietistischen Vaters den jungen Buchbinder August Keil heiraten soll. Sie zögert zunächst, einzuwilligen. Ist sie doch den Verführungskünsten ihres früheren Dienstherrn Flamm erlegen, der – verheiratet mit einer wohlhabenden, gehbehinderten Frau – nur blumig-unverbindlich sagt: „Wenn ich frei wäre, würde ich dich heiraten“. Streckmann, ein älterer Weiberheld, erpresst Rose, weiß er doch von ihrem Verhältnis. Geld will er nicht. Glaubt man Rose, dann vergewaltigt er sie. Es kommt zu einem Gerichtsverfahren, bei dem die junge Frau einen Meineid schwört, wenn sie leugnet, jemals sexuelle Beziehungen zu Männern gehabt zu haben. Verzweifelt und gebrochen tötet sie, die von Flamm schwanger ist, in ihrer Not das Neugeborene. August Keil kann dies nicht mit seinen engen Moralvorstellungen in Einklang bringen und wendet sich von ihr ab. Hauptmanns tragische Heldin wird unschuldig schuldig und geht an einer von Männern und verlogenen Moralvorstellungen bestimmten Gesellschaft zugrunde.
1903 erlebt das Stück Rose Bernd seine gefeierte Uraufführung am Deutschen Theater in Berlin. Als es jedoch 1904 am Wiener Burgtheater in Österreich uraufgeführt wurde, griff die prüde Erzherzogin Marie Valerie von Österreich ein. Nach nur fünf Vorstellungen wurde das Werk wegen offensichtlicher Zurschaustellung von Sinnlichkeit abgesetzt.
Gerhart Hauptmann kannte das Leben auf dem Lande in der schlesischen Provinz aus eigener Erfahrung. Auch die Zerrissenheit zwischen zwei Frauen, die ihm beide wichtig waren, hat einen autobiographischen Bezug zu Hauptmanns Leben.
Das naturalistische Drama stellt eine junge Frau in den Mittelpunkt, die nach dem Tod der Mutter und der Arbeitslosigkeit des Vaters den Lebensunterhalt für die Familie verdienen muss. Sehr jung kommt sie in den Haushalt der Flamms. Rose hat durchaus Sehnsüchte und will aus tiefster Liebe lieben und geliebt werden. Aber sie lebt in einer starren Welt, wo sie von allen benutzt wird, wo „kein himmlischer Vater sich je gerührt hat“.
Roger Vontobel ist eine äußerst berührende, intensive Umsetzung des Stoffes gelungen. Bewegend insbesondere, weil wir – unabhängig vom historischen Kontext – miterleben, wie eine junge Frau allein gelassen und überfordert wird, die für andere alles tut.
Schon das Bühnenbild von Claudia Rohner setzt Zeichen. Die schräge Spielfläche steigt nach hinten an. Es werden so gut wie keine Requisiten verwendet. Beständig rieseln goldene Papierschnipsel herunter, mal mehr, mal weniger. Die Darsteller werden ohne Rückzugsmöglichkeiten ausgestellt. Fünf Musiker, die vor allem Blasinstrumente spielen, tragen zu wirkungsvollen Akzentuierungen der Handlung bei.
Im Zentrum der herausragenden Inszenierung steht Jana Schulz als Rose Bernd. Anrührend, wenn sie für einen kurzen Moment des Glücks mit Christoph Flamm hingebungsvoll und fröhlich tanzt. Und die Musik spielt dazu auf. Niederschmetternd ist ihr langsames Zerbrechen an der rigiden Umwelt zu verfolgen, was seinen Höhepunkt im Kindsmord findet. Gerade dann geht eine große Wolke von Goldregen auf sie herab, dann wird es dunkel. Treffender kann man diesen Augenblick der äußersten Verzweiflung nicht bebildern.
Der Däne Olaf Johannessen gibt mit der Darstellung des Flamm ein beeindruckendes Debut am Bochumer Schauspielhaus. Glaubhaft seine Zuneigung zu Rose, klar gezeichnet sein Verharren in der für ihn komfortablen Ehe mit seiner Frau. Katharina Linder überzeugt als eine Frau, die längst alle Illusionen verloren hat: „Die Ehe ist bloß ein Gimpelfang“ und „Er hat recht. Ich bin überflüssig“. Die aber im Gegensatz zu ihrem Mann Verantwortung gegenüber der jungen Magd empfindet. Michael Schütz gibt den schmierigen älteren Strizzi Streckmann äußerst eindringlich. Selbst ein Außenseiter in dieser Gesellschaft, genießt er es, Macht über Rose zu haben, die er auch ausnützen will. Matthias Redlhammer (Vater Bernd) und Nils Kreutinger (August Keil) ergänzen das brillante Ensemble.
Ein sehr emotionaler Abend, der einen nicht eine Sekunde aus dem Bann lässt. Und den man noch lange in Erinnerung behalten wird.