Terror im Schauspielhaus Düsseldorf

Krieg gibt es nun mal nicht ohne Opfer

Der klugen Düsseldorfer Inszenierung gelingt es, aus dem juristischen Text, der beim Lesen in seiner Sachlichkeit gelegentlich ein wenig brav und ambitionslos wirkt, höchst engagiertes, ergreifendes Diskurstheater zu machen.

Die elegant geschwungene Bühne in unaufdringlichen Grautönen - in der Anordnung einem Gerichtssaal nachempfunden - lenkt die Aufmerksamkeit ausschließlich auf die außerordentliche Schauspielkunst der Darsteller. Und die verstehen es, dem sachlichen Text Emotionen zu entlocken und die scheinbar nüchtern gezeichneten Figuren in menschliche Charaktere zu verwandeln. Star des Abends ist dabei Nicole Heesters, die ihr juristisch-sachliches Plädoyer mit so viel Glaubwürdigkeit, Nachdenklichkeit und gleichzeitig brillanter Leidenschaft vorträgt, dass sie Szenenapplaus erhält – für ein Schauspielhaus höchst ungewöhnlich und für einen Gerichtssaal völlig ausgeschlossen! Doch auch Andreas Grothgar weiß seiner Rolle als Verteidiger soviel menschliches Verständnis, Engagement, gelegentlich sogar leichte Ironie abzugewinnen, dass er das Publikum begeistert: Szenenapplaus!

Wir erleben Theater am Puls der Zeit: Terror und Menschenwürde werden auf der Bühne verhandelt. Die Bühne als Gerichtssaal und wir, das Publikum, als Schöffen. Das heißt: Theater zum Mitdenken und Mitmachen in dem brandaktuellen neuen Stück von Ferdinand von Schirach, das vor zwei Wochen in Berlin und Frankfurt uraufgeführt wurde (siehe theater:pur-Besprechung hier) und jetzt in Düsseldorf im Beisein des Autors Premiere feierte. Dreizehn weitere Theater werden noch in dieser Spielzeit folgen.

Worum geht es? Verhandelt wird ein fiktiver Fall. Die Anklage lautet auf 164-fachen Mord. Angeklagter: Major Lars Koch, Pilot eines Bundeswehr-Kampfjets. Seine Tat: Abschuss eines von Terrorristen gekaperten, mit 164 Menschen besetzten Lufthansa-Airbusses. Er löste den Schuss aus in dem Augenblick, als die Entführer mit der Passagiermaschine Kurs auf die mit 70.000 Menschen vollbesetzte Sport-Arena nahmen.

Das hier verhandelte Problem stellt die Frage nach der Unantastbarkeit der Würde des Menschen und dem Einfluss von Terrorismus auf unsere demokratische Gesellschaft. Darf Leben gegen Leben abgewogen werden? Kann es Recht sein, ein Unheil durch ein anderes abzuwehren? Darf die Zahl der Opfer entscheiden: Können 70.000 Gerettete den Tod von 164 Getöteten rechtfertigen? Obwohl das Verfassungsgericht 2006 eindeutig für die Würde des Einzelnen und gegen das moralische Empfinden (die große Zahl der Geretteten - das „kleinere Übel“) entschied, berief sich der damalige Verteidigungsminister Jung auf den „übergesetzlichen Notstand“ als Begründung für eine subjektive Entscheidung. Da der „übergesetzliche Notstand“ weder im Grundgesetz noch im Strafgesetzbuch geregelt ist, bleibt hier Raum für die Gewissensentscheidung. Wir, das Publikum - die „Schöffen“ - haben zu entscheiden: Hier unser moralisches Empfinden, unser Gewissen, das kleinere Übel: die Moral; dort die Prinzipien, das Grundgesetz, das Urteil des Verfassungsgerichtes: das Recht. Die einfache Mehrheit gilt. Der Autor Ferdinand von Schirach bietet Begründungstexte für beide Urteile: Schuldig oder Unschuldig.

Der Vorsitzende entlässt das Publikum in die Pause mit den Worten: Ihre Beratung wird sich mit der Frage beschäftigen, ob der Angeklagte gegen die Bindungen, die ihm das Verfassungsgericht und die Verfassung auferlegt haben, verstoßen durfte.

Das ist der Kern. Das Premierenpublikum entschied mit 326 Stimmen für „unschuldig“ gegen 256 Stimmen für „schuldig“.

Krieg gibt es nun mal nicht ohne Opfer, fasst der Kampfpilot Lars Koch seine Verteidigung zusammen. Auch er hält sich für unschuldig.

Im ersten Theaterstück des Bestsellerautors und prominenten Strafverteidigers Ferdinand von Schirach geht es - wie auch in seinen inzwischen millionenfach verkauften Erzählungen und Romanen - nicht um die Suche nach einem Täter, sondern um das Aufzeigen von Motiven und Hintergründen für die Tat und die Umstände, die dazu führten. Im Mittelpunkt steht immer der Mensch mit allen Gefährdungen und Unwägbarkeiten. „Es gibt nichts, was Sie oder mich von einem Mörder wirklich unterscheidet. Wir können nicht voraussehen, was wir tun,“ beschrieb Schirach kürzlich in einem Interview seinen Blick auf menschliches Handeln. Nachdem er zwanzig Jahre als Strafverteidiger vor Gericht war, erklärt er, „das Meiste gesehen“ zu haben. Ein Fundus, aus dem er schöpft. Inzwischen sind seine Bücher in mehr als 35 Ländern erschienen und mit vielen nationalen und internationalen Literaturpreisen ausgezeichnet worden. Auch im Fernsehen wurden Verbrechen und Schuld als Serien gezeigt. Da liegt es nahe, dass auch Terror verfilmt wird. Geplant ist ein „interaktives Medienereignis“ mit Zuschauerbeteiligung: Der Zuschauer kann dann, ganz ähnlich wie bei der Theateraufführung, in einem simulierten Strafprozess in die Rolle des Richters oder eines Schöffen schlüpfen, wobei Dokumentationen und Diskussionen für zusätzliches Informationsmaterial sorgen. Warten wir’s ab! Vorerst heißt es im Theater: Aufmerksam zuhören, klug abstimmen!

Für besonders Interessierte bietet Kiepenheuer-Medien im Internet eine Übersicht über die 16 Bühnen, auf denen das Stück in dieser Spielzeit gezeigt wird, und den jeweiligen Abstimmungs-Stand (siehe hier).