Übrigens …

Das beste aller möglichen Leben im Schauspiel Essen

Sinnsuche im Zeitraffer

„Während die Eier kochen, schreite ich zu einem Gottesbeweis“, sagt Christopher. Gesagt, getan. In Windeseile malt Stefan Diekmann ein paar mathematische Formeln und Linien auf, und fertig ist der Lack. „Du lebst in einer Welt, in der Gott existiert nach meinem Beweis, und in einer Familie voller Liebe“, beruhigt er seine verstörte Mutter. Dass die es mit einem Hochbegabten zu tun hat, wäre ja noch nicht unbedingt ein Grund zur Sorge - bedenklich stimmt jedoch, dass der beweisführende Nachwuchs zu diesem Zeitpunkt erst eine Stunde alt ist. Naomi und East, die irritierten Eltern, waren soeben noch mitten im Selbstfindungsprozess und diskutierten über Wohl und Wehe des Schwangerwerdens, als plötzlich dieses Baby vor der Tür lag. Gerade einem unbekannten Mutterleib entschlüpft, lächelt es Naomi an, und fünf Minuten später tanzt es Hiphop. Während die von ihrer plötzlichen Mutter- und Vaterschaft überrollten Eltern noch beratschlagen, ob sie ihr Kind Sunshine nennen sollen oder - nach guter alter indianischer Tradition und in Anbetracht des für einen Säugling ungewöhnlich ausgeprägten Geschlechtsteils - „Gehänge-wie-ein-Pferd“, kräht es aus der Babyschale: „Bitte nennt mich Christopher“. Dann fordert das Neugeborene einen schwarzen Kaffee und spielt den Flohwalzer.

Das könnte alles ziemlich witzig sein. Seltsamerweise wirkt es in Thomas Krupas Uraufführung von Noah Haidles absurder Sinnsuchungs-Komödie Das beste aller möglichen Leben aber eher betulich. Liegt das an der Übersetzung? Das könnte man denken, wenn man den Gag mit der Namensgebung betrachtet: „Gehänge-wie-ein-Pferd“ als Name für einen weißen Säugling ist im amerikanischen, mit indianischen Sprachgewohnheiten vertrauten Kulturkreis eine aberwitzige Idee; in deutscher Sprache wirkt der Witz aber selbst für erfahrene Karl-May-Leser einfach nur schal. Doch die Übersetzung ist, wenngleich nicht übermäßig inspiriert, trotz gelegentlicher Holprigkeiten hinnehmbar. Das Stück spielt in einer hässlichen braunen Box, die dem Blick keinen Halt und den Akteuren nur einen unbequemen Ausstieg durch eine in Brusthöhe endende Türklappe ermöglicht. Verhindert also diese etwas langweilige Bühne eine flottere Rezeption? Bremst das vergleichsweise statische Spiel ohne sonderliche Requisiten das Zünden der Pointen? Oder haben wir es einfach mit einem belanglosen Text zu tun?

Nun, bei der Bühne hat sich Regisseur Thomas Krupa durchaus etwas gedacht. Mit jedem Wachstumsschub, den das Naomi und East zugeflogene Früchtchen erleidet, senkt sich die Decke der Box um einige Dezimeter herab, bis sie begleitend zu Christophers Exitus ein Niveau erreicht, das auch den immer noch jungen Eltern nur noch ein Krauchen ermöglicht. Je mehr Lebenserfahrung der Mensch sammelt und je ausgeprägter sein Bewusstseinsprozess wird, desto enger erscheint ihm die Welt. Christopher absolviert ein ganzes Leben in 100 Minuten - von der (Baby-)Schale bis zur Bahre. Er nimmt all die verschlungenen Entwicklungspfade des modernen Menschen im Zeitraffer, und als Vater erwachsener Kinder wird man gewahr, wie sehr das Leben durch den Nachwuchs ins Schleudern gekommen ist. Aber in zwanzig Jahren nimmt man so manche Kurve, die einen in 100 Minuten trotz professionellstem Powerslide aus der Bahn würfe. Christopher allerdings ist ein besonders krasser Fall: Bald merkt er, dass ein Sonnenaufgang zwar schön, der Rest des Lebens aber ziemlich Kacke ist. Lernen und selbstlose Liebe sind schnell vorbei; Sex dient nur der Triebabfuhr: Er vergewaltigt seine Mutter. Auflehnung ist angesagt; nix ist mehr mit Gottesbeweis: „Gott ist tot.“ Anstatt Gedichte zu schreiben, betäubt Christopher sich mit harten Rock-Rhythmen: Bis zur Schmerzgrenze wird ein Metal Punk Protestsong der Band „Rage Against The Machine“ aufgedreht. Mutter besorgt Valium, Vater Drogen, und so wird nach und nach… Verzeihung: im Zeitraffer aus dem kleinen Christopher das Frankenstein-Monster, das Stefan Diekmann auch optisch darstellt - und das die Inszenierung vielleicht ein wenig ungeschickt in den Vordergrund stellt. Schließlich wird der ehedem kleine Racker zum Jesus-Jünger und zweifelhaften Propheten. Sterbend prophezeit er: „Du bist schwanger“ und deutet auf Naomis Bauch. Reset: Fangen wir noch einmal von vorn an mit der Suche nach dem besten aller möglichen Leben. Christopher hat alles ausprobiert: Anpassung und Rebellion, Sensibilität und Rücksichtslosigkeit, Heilssuche und Drogenrausch - und kommt bei seinem Tode zu dem Résumé: Nichts, aber auch gar nichts hat diese Zeit gebracht. 

So wie die Versuchsanordnung des Stückes etwas Absurdes hat, hat die Schlussfolgerung etwas Existenzialistisches. Samuel Beckett ist eines der literarischen Vorbilder von Noah Haidle, der in einem Interview mit dem Essener Dramaturgen Florian Heller sagt, es gebe angeblich zwei Arten von Theaterstücken: „… diejenigen, die sich damit auseinandersetzen, was es bedeutet, in dieser Welt zu leben, und diejenigen, die sich damit auseinandersetzen, was es bedeutet zu existieren.“ Er bevorzuge eindeutig letztere. Und so versucht der Dramatiker auch in seinem aktuellen Stück, eine Gesellschaftsanalyse mit der Frage nach dem Sinn unserer Existenz zu verbinden. Christopher kommt zu einem ausgesprochen kritischen Befund über das Lebensgefühl des Mittelstands in der westlichen Wohlstandsgesellschaft. Er entwickelt sich zu einer Art Seismograph des Lebens in seiner Familie und erkennt schnell, dass das Leben vor allem eine Aneinanderreihung von Enttäuschungen ist. Selbst Sex sei manchmal wie Müll raustragen, stellt East einmal resigniert fest.

Ein hübsches Bonmot, und doch gleichzeitig ein Indiz für die Schwäche von Stück und Inszenierung. Denn so wenig wie Haidle dem Schauspiel Essen das beste aller möglichen Stücke geschrieben hat, so wenig bietet Thomas Krupa die beste aller möglichen Interpretationen an. In seiner Inszenierung wirkt die kritische Groteske wie ein kleinteiliges Wohnküchendrama, das sich jeden Blick auf politische oder philosophische Fragestellungen versagt. Die Frage, was eigentlich wichtig ist auf der Welt, wird nur in Bezug auf das private Umfeld und die eigene Befindlichkeit untersucht. Die gesellschaftspolitische Relevanz bleibt gut versteckt. Dabei bietet das Stück reichlich Angebote für Regie-Einfälle der witzigen oder auch der krasseren Art, die Krupa und seine - mit Ausnahme von Diekmanns Christopher - etwas bieder wirkenden Schauspieler nicht nutzen. Sie haben das Stück entschärft und ausgesprochen brav auf die Bühne gebracht und lassen es damit belangloser erscheinen als es in Wahrheit ist.