Auf der Suche nach dem Menschen
Er schnitzt sich einen Sohn aus Pinienholz. Doch die erste Begeisterung schmilzt schnell dahin. Denn der, den er schuf, geht recht bald eigene Wege. Er ist neugierig, steckt seine überlange Nase in alles, was ihm fremd ist. Schule? Ja, er will ja lernen. Was aber, wenn ihm die Neugier immer wieder ein Schnippchen schlägt und ihn auf alle möglichen Umwege (ver)führt? So meint er, gar nicht dumm, es sei „besser, ich gehe heute zur Musik und verschiebe die Schule auf morgen“. Die „Musik“ – das sind die alltäglichen Verführungen, denen auf den Leim zu gehen oft verhängnisvoll endet. So ergeht es Pinocchio (mitreißend verspielt: Jonathan Schimmer), den seine Neugier in unbekannte Länder der Seele entführt.
Aus dem Kinderbuch des Italieners Carlo Collodi schnitzte Jürgen Popig eine zupackende Bühnenfassung. Der Argentinier Marcelo Diaz seinerseits schickte Collodis kleines Holz-Wunder in köstliche Phantasie-Landschaften, denen im „Central“, Ausweichquartier des Düsseldorfer Schauspiels und vorweihnachtszeitliche Heimat des „Jungen Schauspielhauses“, nicht nur die „ab Sechsjährigen“ verfielen.
Was Theaterzauber vermag, der die Phantasie des Zuschauers zum „Mitspielen“ verführt, kann man auch als Erwachsener angesichts ebenso einfacher wie großer Szenen und Bilder erleben. Pinocchio wird zum Inbegriff des Suchens, des Lernens und Verstehens. Ein fast faustischer Gang in die Realitäten dieser Welt.
Ebenso köstlich wie einfach ist bereits die Eingangsszene. Wie hinterm Pinienholz-Brett zunächst ein Arm, dann ein Bein, schließlich alle Glieder sichtbar werden, die Papa Gepetto (Philip Schlomm) schnitzt und schleift, um schließlich den ganzen Körper des großen kleinen „Hampelmanns“ erkennbar werden zu lassen, ist von so viel Naivität und Liebe zugleich geprägt, dass man sofort und unmittelbar ins Theater-Wunderwerk verstrickt ist.
Noch knirschen die Gelenke, muss Papa sie geschmeidig machen. Doch bald ist der Wunderknabe Pinocchio fertig. Erkennbar an seiner langen Nase, die sich freilich nur ein einziges Mal verlängert. Ein Lügenbold ist der kleine Große nicht. Sein Näschen ist hingegen oft Ziel eines zärtlichen Kusses, ob von Papa oder der Fee mit den blauen Haaren (Teresa Zschernig), seinem Schutzengel, der sogar auf Ballett-Schuhen Spitze tanzen kann.
Viel muss Gepettos Junge lernen. Wie die Miniatur-Ausgabe eines Dr. Faust mit der Seele eines gutgläubigen naiven Kindes wandert Pinocchio von nun an durch die Welt. Fuchs (Bernhard Schmidt-Hackenberg) und Kater (Dominik Paul Weber) verführen ihn in die ihm noch unbekannte Welt aus Gier und Neid. Vergraben auf einem „Wunderfeld“, sollen dem jungen Ehrgeizling aus fünf Goldstücken ganze Bäume voller Goldstücke wachsen. Doch Fuchs und Kater sind längst mit den im Sand vergrabenen Goldmünzen auf und davon, als Pinocchio mit einem Eimer Wasser vom nahen Fluss zurückkommt, um die Münzen zu begießen.
Die schönsten Bilder, die sich vor allem im Kopf des Zuschauers zu Realitäten entwickeln, zeigt Diaz’ Inszenierung, wenn Pinocchio, mit dem Thunfisch (Jasmina Music) im Bauch eines riesigen Pottwals gelandet, Papa Gepetto am anderen Ende des Magens entdeckt und dann alle drei, akustisch durch Geräusche des Komponisten Bojan Vuletic wunderbar begleitet – alle Darsteller, die gerade nicht im Spiel sind, machen mit -, aus dem massigen Wal-Körper herausgeschleudert werden.
„Gerettet!“, triumphieren Papa und Sohn, der plötzlich Blut an seinen Händen entdeckt: Pinocchio ist, was er immer sein wollte: endlich ein Mensch aus Fleisch und Blut. Die Nase schwindet, das Märchen ist zu Ende und in der Gegenwart angekommen.
Jubelnder und beglückter Beifall eines altersmäßig wahrlich sehr gemischten Publikums dankte dem Team der Glorreichen Sieben nach 75 Minuten.