Der Tod, das muss ein Wiener sein
Eigentlich sollte die aktuelle Kölner Schauspielsaison mit dem 2. Teil von Exodus beginnen. Dies allerdings im Schauspielhaus am Offenbach-Platz, das man in renoviertem Glanz mit diesem Stück glaubte eröffnen zu können. Dass diese Blütenträume nicht reiften und wegen massiver Verzögerungen bei den Sanierungsarbeiten auch die Oper in den beiden kommenden Spielzeiten aushäusig spielen muss, ist zur Genüge durch die Presse gegangen und braucht an dieser Stelle sicher nicht nochmals referiert zu werden. Im Vergleich zur Oper, die mit dem „Staatenhaus“ mittlerweile auch eine (freilich noch nicht endgültig ausgetestete) Bleibe gefunden hat, besitzt das Schauspiel mit dem Carlswerk im Stadtteil Mülheim ein großes, vielfältig nutzbares Hallenareal, welches sich weitgehend bewährt hat, das weiterhin zur Verfügung steht und als alternatives, ergänzendes Domizil auch für die Zukunft im Auge behalten werden soll.
Der Saal „Depot 1“ verfügt nunmehr über einen Vorhang, der jetzt bei Ödön von Horváths Geschichten aus dem Wiener Wald allerdings nicht zwingend notwendig gewesen wäre. Auf der (Dreh-)Bühne von Olaf Altmann befindet sich nämlich nichts, was für einen Überraschungseffekt zu verbergen gewesen wäre. Die Szene ist gänzlich leer. Keine Milieuandeutung des titelgebenden Wienerwaldes, keine Couleur locale, nichts pittoresk Ablenkendes (und auch kein musikalischer Rückgriff auf den titelidentischen Johann-Strauß-Walzer). Ein personifiziertes Skelett schleicht immer wieder mal durch das Geschehen. Man kann Schuberts „Tod und das Mädchen“ assoziieren, aber vielleicht besser noch Georg Kreislers „Der Tod, das muss ein Wiener sein“. Ein betont choreografisch ausgearbeiteter Totentanz ist die Inszenierung so oder so.
Intendant Stefan Bachmann hat Horváths „Volksstück“ vor fünf Jahren bereits am Wiener Akademie-Theater inszeniert. Was geblieben, was verändert wurde, kann natürlich nur sagen, wer diese Aufführung gesehen hat. Falls es sich um eine Adaption handelt, dann aber fraglos eine mit erheblichen Varianten.
Alle Darsteller, während der eindreiviertelstündigen, pausenlosen Aufführung ständig präsent, kauern am Rande der Drehbühne, kommen bei Bedarf an die Rampe und nehmen Aufstellung, meist frontal zum Publikum. Ein psychologisierendes Kammerspiel liefert Bachmanns Inszenierung bewusst nicht, trotz der Herausarbeitung differenzierter Menschentypen wie den sauertöpfisch tänzelnden Zauberkönig oder den schwammig tapsenden, ondulierten Fleischermeister Oskar. Doch insgesamt stellt Bachmann die Horváth-Figuren eher schaubudenmäßig aus, macht mitunter aus ihnen – von der weiblichen Zentralfigur Marianne abgesehen – regelrechte Karikaturen. Martin Reinkes individuell helle, knarzig verbissene Stimme, in Köln seit Jahrzehnten wohl vertraut (er begann u.a. mit Schillers Karl Moor), kommt dem Regisseur dabei entgegen. So rollenstimmig wie jetzt als Zauberkönig war der Schauspieler schon lange nicht mehr zu erleben. Simon Kirsch ist mit Stolperschritt und verklemmter Körperhaltung der junge Erich, ein veritabler Nazi ante portas (die Uraufführung des Dramas war 1931!), Bruno Cathomas macht aus dem Oskar einen entsetzlich biederen, stoffeligen und lamentösen Plumpsack.
Er gibt auch den fiesen „Mister“. In seiner Mehrfachrolle wie auch den anderen muss man keine symbolhafte Deutungsabsicht Bachmanns sehen, es dürfte sich vielmehr um ganz pragmatische Besetzungsentscheidungen mit Blick auf das zur Verfügung stehende Ensemble handeln. Für Seán McDonagh (Mutter, Havlitschek, Conferencier), Jörg Ratjen (Großmutter, Rittmeister, Beichtvater) und den bereits erwähnten Simon Kirsch (Skelett, Erich) ist dies allerdings Gelegenheit zur virtuosen Demonstration variabler Charaktere. Melanie Kretschmann wirkt als Valerie freilich ein wenig outriert. Hingegen gibt sich Robert Dölle als Hallodri Alfred weniger schmierig als vielleicht erwartet; er ist mehr ein düsterer, verbohrter und selbstverliebter Zeitgenosse, an dessen Seite es Marianne eigentlich schaudern müsste. Der herrischen und berserkerhaft moralisierenden Großmutter, die kaltherzig Mariannes Leopoldchen tödlicher Zugluft aussetzt, fehlt bei Bachmanns Besetzung en travestie ein entscheidendes Quentchen Bösartigkeit, so brutal Jörg Ratjen aus seiner imaginären Zither auch das Harry-Lime-Thema aus dem „Dritten Mann“ heraus hämmert.
In Bachmanns Inszenierung darf durchaus gelacht werden, Horváths entlarvender Text gibt dazu per se reichlich Anlass. Bemerkenswert aber ist auch, wie sich beim vorsichtig versöhnenden Dialog des Zauberkönigs mit seiner „herunter gekommenen“ Tochter Marianne (die kindhaft wirkende, bebrillte Lou Zöllkau wirkt auch bei völliger Nacktheit wie ein Unschuldslamm) auf einmal tiefe Stille über das amüsierbereite Publikum breitet.