Durchs wilde Ukrainistan
Goethe dozierte: „Die beste Bildung findet ein gescheiter Mensch auf Reisen“. Gescheit sind die Jungs von der freien Theatergruppe subbotnik ja, und so wussten sie: Wenn einer eine Reise tut, dann kann er was erleben. Sie dachten, wenn sie mit Halali und Polish Airlines gen Odessa ziehen würden, könnten sie genug erleben, um daraus ein neues Theaterstück zu entwickeln. Ein Stück über Herkunft und Heldentum… - Der Gedanke ist nicht abwegig, die Umsetzung allerdings nur halb gelungen. Ein fertiges Theaterstück ist aus ihrer Reise in den wilden Osten Europas nicht geworden. Eine subbotnik-typische, mal poetische, oft skurrile und manchmal einfach nur merkwürdige Aneinanderreihung von Assoziationen schon.
Die Subbotniki, die (nach einer früheren Koproduktion mit dem Mülheimer Theater an der Ruhr, siehe hier) mit ihrer Produktion im Depot 2 des Schauspiels Köln erstmals für ein arriviertes Stadttheater arbeiten, denken im Hinblick auf das Reisen noch in eine ganz andere Richtung. Das Programmheft zitiert den ukrainischen Lyriker, Romancier und Essayisten Juri Andruchowitsch. Der hat beim Reisen ein ganz anderes Ziel im Fokus: „Wenn wir überhaupt über Mittel zum Widerstand verfügen, dann ist das Reisen eines davon“, glaubt er. Oleg Zhukov, eines der drei Gründungsmitglieder der Truppe, stammt aus Odessa, Kornelius Heidebrecht, ebenfalls von Anfang an dabei, wurde in Kasachstan geboren und ist in Weißrussland aufgewachsen, und so mag der Widerstandsgeist, der die Reise ausgelöst (oder zumindest begleitet) hat, geweckt worden sein von den politischen Entwicklungen in Russland, der Ukraine und den übrigen Transformationsländern der früheren Sowjetunion. Zunächst einmal aber gab es eigene Widerstände zu überwinden – und recht skurrile Vorurteile. Bürgerkriegs-Warnungen ihrer deutschen Bekannten begleiteten die fahrenden Gesellen. Wer im sicheren Köln sitzt, für den ist Mariupol überall, wenn er ans wilde Ukrainistan denkt: Martin Kloepfer, der dritte Mann unter Subbotniks Gründervätern und „nur“ in Essen und Düsseldorf sozialisiert, denkt beim Aufbruch ins östliche Abenteuer gar an eine frühere Mali-Reise. Nun ja, manche in ihrer splendid isolation gefangene Briten glauben ja noch heute, dass Afrika in Calais beginne.
Immerhin, manche der Klischees vom Osten als Heimstatt von lauter Outlaws findet Kloepfer schon auf der Anreise bestätigt. Auch Oleg Zhukov wird mit einer für ihn schwer zu fassenden Diskrepanz zwischen dem Odessa seiner Herkunft und der veränderten Stadt von heute konfrontiert; Heidebrecht als ehemaliger homo sovieticus kann ebenfalls Vergleiche ziehen. Und da die Subbotniks fabelhafte Geschichten-Erzähler sind, berichten sie im Laufe der zweistündigen Aufführung unaufgeregt, unterhaltsam und mit manch selbstironischem Augenzwinkern über ihre Eindrücke von einer Stadt, die sich in den letzten Jahren wieder und wieder verändert hat. Zuletzt wurde sie gar in eine veritable Identitätskrise gestürzt, als am 2. Mai 2014 bei einer vorsätzlichen Brandstiftung im Gewerkschaftshaus 42 (nach anderen Quellen 56) Menschen ums Leben kamen. (Gerüchteweise hatten ein sinisterer und vor allem bezüglich seiner heutigen politischen Ausrichtung undurchschaubarer Oligarch und Politiker der heutigen prowestlichen Regierung die Hände im Spiel; die Opfer waren vor allem prorussische Maidan-Kritiker. Es ist so eine Geschichte, bei der man ahnt, dass im Ukraine-Konflikt die Bösen auf beiden Seiten zu finden sind.) Die Subbotniks treffen auf singende Milizionäre, besuchen eine orthodoxe Kirche, Oleg schaut bei einer skurrilen, in einem ärmlichen, altmodischen Büro mit der Bioresonanzmethode und anderen von der Schulmedizin nicht anerkannten Heilverfahren experimentierenden Tante vorbei und fährt mit seinen Kumpanen ins 20 Kilometer von der Stadt entfernte Dorf Tschernomorka, an dessen Strand heute die Touristen fehlen.
Doch ist der Reisebericht im Grunde nur die Rahmenerzählung. Es mag dem berauschenden Weihrauchduft der russisch-orthodoxen Messe geschuldet sein, der sogar in die Nasen der Zuschauer zieht, dass sich nahezu mythische Gestalten in das Roadmovie mischen, das die drei Subbotniki erzählen. Auf liebenswerte, immer skurrile und in den besten Momenten der Aufführung poetische Art und Weise wird die eher banale, aber irgendwie traurige Geschichte der realen Reise der Subbotniks mit einem Märchen von Alexander Nikolajewitsch Afanasjew verwoben. In diesem Märchen schießt der Schütze Andrej (hanebüchen verkleidet: der großartige Pianist Igor Kirillov) eine Turteltaube, und die verwandelt sich in ein wunderschönes Mädchen. Herkunft und Heldentum bekommen nun eine andere Dimension – der Schütze, der Lump aus dem einfachen Volk, heiratet das schöne Mädchen (verkörpert von Lou Strenger, einziges Kölner Ensemble-Mitglied an diesem Abend), und der Zar, der natürlich auch auf die außerirdische Schönheit der jungen Dame reflektiert, guckt in die Röhre. Er stellt seinem Schützen die schwerste Aufgabe, die sich denken lässt: „Geh hin, ich weiß nicht wohin – bring das, ich weiß nicht was“. Die Abenteuer, die Andrej bestehen muss, dominieren nun den weiteren Verlauf des Abends, und sie sind ganz anders als diejenigen, die unsere Kern-Subbotniks in Odessa hinter sich bringen, aber am Ende entpuppt sich das schöne Turteltauben-Mädchen als Zarentochter, und alles wird gut. - Tatsächlich? Nun, Kloepfer, Heidebrecht und Zhukov dürfen wieder heimreisen nach Deutschland, aber die Ukrainer müssen bleiben …
Wer am Forum Freies Theater Düsseldorf, an der Studiobühne Köln oder andernorts bereits frühere Inszenierungen von Subbotnik erlebt hat, erkennt ihren Inszenierungsstil wieder. Irgendwie sind sie moderne Afanasjews: Auch sie erzählen im Stile eines Märchenerzählers, unspektakulär und leicht, mit feinem Humor und großer Menschenfreundlichkeit – und mit der Melancholie der Menschen, deren Helden Aussteiger und Utopisten sind. Stets begleitet selbst komponierte, ausgesprochen schräge Live-Musik ihre Performances. Den Kölner Abend haben sie sogar als „Musiktheaterabend“ deklariert, obwohl die Musik keine größere Rolle einnimmt als in vielen ihrer Vorgängerstücke. Immerhin sind vier Klaviere und E-Pianos über die Bühne verteilt, und mit Kirillov sowie dem Posaunisten Henning Nierstenhöfer hat sich die Truppe mit herausragenden Musikern verstärkt (Heidebrecht ist eh von Haus aus Musiker, Komponist und Sounddesigner). Die Bühne hat den Charme des Rohen und Unfertigen, den wir schon bei Subbotniks Interpretation von Dostojewskis Traum eines lächerlichen Menschen (theater:pur-Rezension siehe hier) und bei der Sehnsucht des Menschen, ein Tier zu sein beobachten konnten; ebenso bewusst im Dilettantischen bleiben die Videos, Fotos und Geräusche von Flughafen, Stadt und Meer, die die Aufführung bebildern. Auch wenn der Abend nicht an die stärksten Subbotnik-Abende heranreicht, führt vor allem der Einsatz der Musik immer wieder zu den poetischen Momenten, die wir von diesen oft so grandiosen Storytellern kennen.