Übrigens …

3.31.93/Überwintern im Schauspiel Köln/Theater Oberhausen

Pessimistische Blicke auf Leben und Tod

Jahrzehnte ist es her, seit wir zuletzt etwas von dem schwedischen Dramatiker Lars Norén auf nordrhein-westfälischen Bühnen sahen. Norén – das war der düstere Stücke-Schreiber aus dem Norden, der hierzulande vor allen mit seinen Dämonen (Claus Peymann am Schauspielhaus Bochum 1984) und dem Personenkreis 3.1 (Thomas Ostermeier an der Schaubühne Berlin 2000) bekannt geworden ist – und wegen eines veritablen Theaterskandals in Schweden, als Norén in seiner eigenen Inszenierung von 7:3 inhaftierte Gewaltverbrecher auftreten ließ, die während des für die Aufführung gewährten Freigangs eine Bank überfielen und zwei Polizisten ermordeten. Außenseiter und von der Gesellschaft Ausgeschlossene stehen häufig im Zentrum von Noréns Stücken; bei Personenkreis 3.1 waren es Drogensüchtige, Obdachlose, Langzeitarbeitslose, Alkoholiker und psychische Kranke, bei den Dämonen thematisierte er „nur“ eine gnadenlose Ehehölle à la Bergmans Szenen einer Ehe oder Albees Wer hat Angst vor Virginia Woolf. Zuletzt konzentrierte sich Norén auf seine Arbeit als künstlerischer Leiter des Riksteatern Stockholm und seine Tätigkeit als Regisseur.

Nun war an zwei aufeinanderfolgenden Tagen je eine Deutschsprachige Erstaufführung am Schauspiel Köln und am Theater Oberhausen zu bewundern. Düster ist Norén geblieben; von der Hölle des Lebens – auch des Zusammenlebens – weiß er nach wie vor zu berichten. Überwintern in Oberhausen ist das zartere, aber auch konventionellere Stück, 3.31.93 in Köln das anspruchsvollere, kunstvoll gewobene. So unterschiedlich die Aufführungen auch geraten sind: Beide lohnen den Besuch.

Depression, Demenz und Lungenkrebs: eine erbarmungslose Mensch-Puppen-Maschine in Köln

Er spielt Cello. Er, das ist eine Maestro-Puppe in halber Lebensgröße. Drei Babys hatte es gegeben in den vergangenen dreieinhalb Stunden am Schauspiel Köln, und nun stehen drei erwachsene Schauspieler mit Windeln und Schnuller um den Maestro herum, der eine wunderschöne, melancholische Melodie spielt. 3.31.93 geht zu Ende, dieses Stück aus 3 x 31 = 93 fragmentarischen Szenen auf 300 Druckseiten, das das Schauspiel Köln auf ca. 140 Seiten und höchstens die Hälfte der Szenen gekürzt hat, und es geht zu Ende mit einem poetischen, sehnsuchtsvollen Bild. Hoffnungsvoll. Dabei hatten die 200 Minuten zuvor uns gelehrt, alle Hoffnung fahren zu lassen.

„Fragmente sind die Brücken, die bleiben, wenn die Kathedralen einstürzen“, wird Lars Norén im Programmheft zu dieser Deutschsprachigen Erstaufführung zitiert. Und Fragmente sind Puzzle-Teile – es dauert eine Weile, bis wir in den unzähligen Kölner Kurz- und Kürzest-Szenen Beziehungsstrukturen und Familienkonstellationen erkennen können. Aber was ist da nicht alles eingestürzt in den Kathedralen dieser einstmals glücklichen, hoffnungsvollen Familien! In einer der ersten Szenen schauen sich zwei Frauen Fotos und Filme aus der Vergangenheit an, als die eine sechs Jahre alt war. Am Ende des Lebens bleibt: Einsamkeit. Vielleicht, wenn es gut geht, Einsamkeit und Langeweile: „Jetzt, wo wir nicht mehr so viel Zeit haben, haben wir viel Zeit“, sagt ein alter Mann nach seinem Eintritt ins Rentenalter in einem bemerkenswert hellsichtigen Satz. Vielleicht bleibt, wenn es gut geht, Einsamkeit nach der Trennung vom Ehepartner. Wenn es schlecht geht, bleibt Einsamkeit in der Klinik, in der Altersdemenz, im Alkoholismus. Pessimistisch ist der Blick des heute 71jänrigen Norén auf das Alter, auf das Leben: In 3.31.93 bleiben Demenz, Schlaganfall, der Totalausfall aller Körperfunktionen, Paranoia, Depression und Lungenkrebs.

Unser Leben – das sind die Fotos, sagt die Frau des Neu-Rentners, doch der hat die Bilder längst vernichtet: „Mein Leben war das nicht“, schnaubt er verbittert. Von seiner Verbitterung wird er bald nichts mehr spüren – auch er dämmert bald der vollständigen Demenz und schließlich dem Tod entgegen. - Sprachlosigkeit stellt sich beim jungen Paar in der Schwangerschaft ein – noch bevor die Tochter geboren wird, hat die Frau ihrem Göttergatten den Stuhl vor die Tür gestellt. Trennung als Chance für den Neuanfang ist bei Norén nicht vorstellbar – es bleiben, obwohl die tieftraurigen Szenen von Thomas Müller und Magda Lena Schlott mitunter durch einen verzweifelten tragikomischen Humor angereichert werden, zwei psychische Wracks. Er zieht wieder bei seinen überforderten Eltern ein und wird immer paranoider, sie wird das gemeinsame Kind auf brutale Art und Weise verlieren, ohne echte Liebe eine neue Beziehung eingehen und ihr daraus entstehendes Kind ablehnen. Größere ebenso wie zahlreiche kleinere Geschichten werden etappenweise und kunstvoll ineinander verschränkt erzählt; zunächst isoliert in einzelnen Erzählsträngen auftauchende Figuren treten irgendwann aktiv in anderen Geschichten auf, aber zentral in Erinnerung bleibt die Geschichte vom Cellisten und seiner aufopferungsvollen, aber mehr und mehr überforderten Ehefrau. Nikolaus Benda, der Cellist, sitzt nach Unfall oder Schlaganfall im Rollstuhl, komplett gelähmt, mit vollständigem Verlust des Sprachzentrums. Die Ehefrau, brillant gespielt von Katharina Schmalenberg, lehnt die Hilfe des Schwiegervaters ab und begibt sich in eine Art freiwillige Isolation. Natürlich wird die Last der Selbstaufgabe übermächtig, und in einem stummen, ergreifenden Bild sehen wir, wie die Frau ihren Mann im Rollstuhl eine schiefe Ebene hinauffährt – hin und zurück, immer bergauf. Aber: Die Frau ist eine kleine Puppe, ein originalgetreues Ebenbild von Katharina Schmalenberg, im Rollstuhl dagegen sitzt der echte, lebensgroße Nikolaus Benda. Selten wurde eine aussichtslose Sisyphus-Aufgabe überzeugender dargestellt.

Das Umfeld ist hilfsbereit, aber überfordert und daher unbedacht. Vernachlässigungen, Unbedachtsamkeiten, gut gemeinte, aber völlig unpassende Hilfsangebote werden zur Qual für die Mühseligen und Beladenen, manchmal gar zur psychischen Folter. Zwangsläufig spüren sie, dass ihnen nicht mehr aus Liebe, sondern aus Pflichtbewusstsein geholfen wird. Erste Fortschritte mit dem Sprechen macht der Cellist erst, als seine Frau die Betreuung an eine prollige kölsche Pflegerin ausgelagert hat, die keinerlei Rücksicht auf dessen Befindlichkeiten nimmt. Deren Verlobter breitet vor den Ohren des geistig noch präsenten Patienten seine Auffassung vom unwerten Leben des Behinderten aus. In einer anderen Szene löst der Klinikpfarrer mit seinen gut gemeinten salbungsvollen Ratschlägen nichts als Widerstände aus. Wer vermag schon in die Seele eines Dementen oder eines unheilbar Kranken hineinzuschauen? „Jesus meine Zuversicht“ ist da die falsche Therapie …

Hausregisseur Moritz Sostmann hat das Stück am Schauspiel Köln inszeniert. Dessen Markenzeichen ist die Vereinigung von Schauspielkunst und Puppenspiel, und er hat diese Technik schon erfolgreich bei Der gute Mensch von Sezuan (theater:pur-Besprechung hier) und weniger gelungen bei Molières Menschenfeind (theater:pur-Rezension hier) angewandt. Perfekter als bei 3.31.93 kann man sich diese Melange nicht vorstellen. Da spielen mal Puppen mit Puppen, mal Menschen mit Menschen, mal Puppen mit Menschen – unmittelbar nach Ende der Aufführung hat man bereits vergessen, welche Szenen man in welcher Konstellation gesehen hat. Häufig jedoch setzt Sostmann die unterschiedliche körperliche Dimension oder die unterschiedliche Bewegungsfreiheit nicht nur als Stil-, sondern als Interpretationsmittel ein – Beispiele siehe oben. Wenn die unbeschäftigten Puppen im Dunkel der Hinterbühne stehen, nur zart ausgeleuchtet, bilden sie die Gemeinschaft der Bürger der Stadt, die dem Geschehen in diesem „Großstadtreigen“, wie das Stück im Untertitel heißt, stumm und traurig zuschauen.

Bühnenbildner Christian Beck hat als Spielfläche und dominantes Requisit einen unendlich langen, weiß gedeckten Tisch entlang der Rampe des Depot 1 im Mülheimer Carlswerk platziert, und siehe da, in diesem riesigen, oft so theaterfeindlichen Raum, in dem temperamentvoll agierende Schauspieler in vielen Inszenierungen einfach verloren gegangen sind, behaupten sich die halb so großen Puppen und ihre menschlichen Kollaborateure so nachdrücklich und selbstbewusst wie in einer intimen Spielstätte der freien Szene. Perfekt wird das Geschehen von der großartigen, mal rhythmischen, mal einschmeichelnden Musik von Nis Søgaard begleitet oder kontrapunktiert. Trotz einiger Längen nach der Pause hat das Schauspiel Köln einen echten Hingucker im Programm, den man nicht versäumen sollte.

Gespräche nach einer Beerdigung: eine sensible Trauerbewältigungs-Studie in Oberhausen

Gegen solche Konkurrenz mitzuhalten tut sich das Theater Oberhausen naturgemäß schwer. Denn Überwintern, die zweite Deutschsprachige Norén-Erstaufführung dieses Monats in NRW, ist nur ein kleines, eher konventionell gebautes Stück, dessen Dialoge in manchen Momenten an die Dramen von Jon Fosse erinnern, die zu Beginn dieses Jahrtausends die deutschsprachigen Bühnen eroberten. In kurzen Sätzen kommunizierten die Fosse-Figuren aneinander vorbei und zeichneten dabei doch präzise Charakter- und Milieu-Studien. Was gesagt wurde, lag zwischen den Zeilen. Ähnliches lässt sich über die Oberhausener Norén-Aufführung sagen.

Erneut muss man eine Weile puzzeln, bis man die Zusammenhänge kapiert hat, aber letztlich inszeniert Regisseur Bastian Kabuth mit großer Sensibilität und Präzision eine Geschichte wie aus einem Guss, die leise, einfühlsam und mit einem eher resignierten Blick auf den Zusammenhalt und die Empathie-Fähigkeit unserer Gesellschaft daherkommt. Ein Mühseliger und Beladener steht auch hier im Zentrum, obwohl er sich eigentlich gerade umgebracht hat. Auf seiner eigenen Trauerfeier entsetzt sich der 30jährige Erik in Gestalt von Eike Weinreich manches Mal über die Banalitäten, die seine Hinterbliebenen zu seinem Gedenken von sich geben, und über das mangelnde Verständnis, dass sie ihm gegenüber aufbringen. Anders als der Regisseur, der genau auf den Text hört, wirken Eriks Familie und Freunde angesichts des Selbstmords eher ratlos als einfühlsam: Sie kreisen um sich selbst und weichen zunächst jeglicher Ursachenanalyse aus.

Drei Wochen lang war Erik verschwunden, bevor seine Leiche aufgefunden wurde, und niemand hatte ihn vermisst. Irgendwann - wir sind bereits weit in der zweiten Hälfte der nur 80minütigen Aufführung - wird diese grausliche Wahrheit ausgesprochen. Zu diesem Zeitpunkt fällt es der Familie längst immer schwerer, sich der Frage nach den Gründen von Eriks psychischer Störung und nach ihrer Mit-Verantwortung für den Selbstmord zu entziehen. Eriks Schwester (Angela Falkenhan) lacht ihre Unsicherheit weg, sobald ihr diese Überlegungen zu nahe kommen; später bekämpft sie ihre Verzweiflung durch Ärger auf den Bruder, der sich so schmählich davon gemacht hat. Eriks Stiefvater (Hartmut Stanke) flüchtet sich vor der Gegenwart in die Gedanken an seinen eigenen nahenden Tod. Laura Angelina Palacios spielt Eriks Witwe. Sie und die gemeinsame kleine Tochter hat Erik früh verlassen. Zart werden hier Entwicklungslinien innerhalb der Familie angedeutet: Auch Eriks Vater hat sich aus dem Staub gemacht, als Erik fünf Jahre alt war. Eriks Frau hat nun auf zweifache Weise Trauerbewältigung zu leisten: Sie stellt sich nicht nur die Frage nach der Mitschuld am Freitod ihres Mannes, sondern sieht sich nun zum zweitenmal mit der Aufgabe der Erziehung ihrer Tochter allein gelassen. Emotional am nächsten stand dem Toten offenbar sein Schulfreund, der, unspektakulär und doch sehr sensibel gespielt von Moritz Peschke, sich Erik und seiner Entscheidung mit Empathie zu nähern versteht.

Jetzt, auf der Trauerfeier, ist es Eriks Mutter, die am meisten erschüttert ist vom Tod ihres Sohnes und erkennbar aus den Gleisen zu geraten droht. Erik sei ein Suchender gewesen, sagt sie zu Beginn. Ob das so war oder ob Eriks Selbsteinschätzung zutrifft, derzufolge er immer seiner Überzeugung gefolgt und den von ihm bewusst gewählten Weg gegangen ist, sei dahingestellt: Mutter Kristina gehört jetzt definitiv zu den Suchenden. Sie sucht einen Hut, den sie nie hatte, und sieht Leute, die es nicht gibt: Als einzige kann sie noch mit Erik kommunizieren, spürt seinen Geist in den Räumen, sucht Erklärungen, thematisiert ihre Schuldgefühle. In der realen Welt findet sie sich kaum noch zurecht. Großartig spielt Anja Schweitzer eine durch den Verlust ihres Kindes derangierte Frau beim verzweifelten Versuch der Bewältigung von Schmerz und Trauer.

Schweitzer und Eike Weinreich als Erik ragen aus einem gut aufgelegten Ensemble heraus. Man muss die metaphysische Erhöhung nicht mögen, die sich in der Anwesenheit des Toten auf der Bühne äußert, aber wie Weinreich seine Figur anlegt, ist berührend und voller Melancholie. Ein kleiner Monolog mit seiner Innenschau, seiner Selbstreflexion ist voller Poesie, sein Fazit am Ende des Stücks voller Pessimismus. „Wir sind ja schon tot, auch wenn wir hier sind“, sagt er und steigt auf einen Stuhl, um sich noch einmal zu erhängen: „Es ist schwer zu leben, wenn man erkannt hat, dass es nichts gibt, das einen verändern kann.“ - Bei Weinreich klingt das keineswegs bitter, sondern wie eine sachliche Bestandsaufnahme unserer Welt.