Herbert im Volksbühnen-Wunderland
Zuerst war da Murmel Murmel. Herbert Fritsch hatte es im Jahre 2012 inszeniert, dieses Stück von Dieter Roth, in dem auf 176 Seiten nur ein einziges Wort wiederholt wird: „Murmel“. In Endlosschleife. Ein Feuerwerk von Clownerien und akrobatischen Verrenkungen hatte Fritsch zusammengemurmelt, ein absurd-komisches Sprachkunstwerk im Geiste von Dada. Aber im Grunde seines Herzens muss Fritsch geglaubt haben, Roths Stück biete zuviel Text. Und in seinem Versmaß stecke zu wenig Musik. Er ging also hin und komponierte eine Oper. Im Januar 2014 ging Ohne Titel Nr. 1 live, jetzt gastierte der blühende Blödsinn erstmals in Nordrhein-Westfalen: im Apollo-Theater Siegen.
Das Husaren-Stück, das hier aufgeführt wird, ist nicht nur „Ohne Titel“. Es findet auch keine Worte mehr. Und es ist ohne Inhalt. Doch es hinterlässt Zuschauer mit glücklichen Gesichtern. Die Schauspieler pupsen, und die Menschen prusten. Vor Lachen. Im Theater. Das muss man erstmal hinkriegen. Schobert und Black hätten das in den 70ern als „höheren Blödsinn“ bezeichnet, was sich auf der Bühne abspielt. Sinnfreies Getöse. Irgendwie nicht unintelligent, aber wenn man auf die Suche geht, findet man zunächst die Intelligenz nicht, die in der Inszenierung steckt. Die Perfektion schon. Es ist eben Dada. Und ganz schön gaga...
Perfektion? Wenn das zweieinhalb Mann starke Orchester (Fabrizio Tentoni und Michael Rowalska sowie der Dirigent und Kurbeldreher Ingo Günther) ihre Instrumente stimmen, geben diese nur ein Krächzen und ein Knarzen von sich. Ein Stuhl ist kaputt und muss umständlich ausgetauscht werden. Die zwölf Schauspieler, teils ebenfalls mit Instrumenten ausgestattet, wurden von Viktoria Behr in grellbunte Pop-Art-Kostüme gesteckt und unter meterdicker Schminke und betonharten Frisur-Helmen versteckt. Luftikusse und Dösbaddel stehen uns gegenüber, Karikaturen von Hallodris und halbseidenen Typen wie Alfred aus den Geschichten aus dem Wiener Wald, Damen mit ins Groteske verwandeltem Duisburger Chic. Tentoni, Günther und Rowalska sind die einzigen Menschen auf der Bühne, die zumindest ansatzweise normal aussehen.
Und los geht’s – as dissonant as it can be. Vorhang auf: Ein schweres weißes Riesensofa schwebt luftig-leicht im Nebel, und die E-Gitarre röhrt lärmend los. Natürlich ist das Sofa gar nicht weiß: es wird vom Hardrock-Klang nur so durchgeschüttelt und leuchtet in allen Farben des Regenbogens (Licht: Torsten König). Zur E-Gitarre gesellen sich: Blockflöten. Nein, nicht die, an welche man angesichts der ironischen DDR-Nostalgie denken mag, die die Volksbühne sonst gerne pflegt, sondern veritable Blockflöten wie wir sie einst in Klasse 5 maltraitieren mussten, um uns die Gnaden-Zwei in Musik zu sichern. Ähnlich virtuos wie damals in der Flötenprüfung klingt das, doch verstärkt sich der Eindruck grenzenloser Harmonie, wenn einer der Schauspieler das Schlagzeug durch heftiges Schlagen eines riesigen hölzernen Bretts ergänzt. Brett, auf italienisch Zambrotta, hätte man während des gekauften Sommermärchens 2006 geblödelt – es ist diese Art Blödelei, die perfekt zu diesem Abend voller anarchischem Unsinn passen würde: sinnfrei und doch manchmal hintersinnig. Zum Brett gehört natürlich eine Säge, und auch Papiertücher, Triangeln, Klavier und Käuzchen kommen zum Einsatz. Jedenfalls kriegen wir was geboten für unser Geld, eine veritable Ouvertüre nämlich, und da die Preise ja nicht so wie in der Oper sind, meckern wir auch nicht, wenn der Dirigent das Dirigieren schon mal vergisst, weil er sich mächtig erschrickt, wenn sein Orchester das Schlagzeug drischt.
Ernst und wichtig blicken die Schauspieler, denn sie werden an diesem Abend ja noch viel zu verhandeln und zu verbandeln haben. Geredet wird nämlich doch, heftig agitiert sogar – auf amerikanisch, auf österreichisch, in klar identifizierbarem Dialekt. Aber eben ohne Worte. Als es oben vom Schnürboden knarzt, bricht Panik aus. Matthias Buss, der kleinste im Ensemble, versucht, die Lehne des überdimensionierten Sofas hochzukrabbeln. Das Sofa ist das einzige, aber gigantische Requisit dieser Aufführung. Auf ihm machen sich ab und zu alle zwölf Schauspieler eher eng als breit. Puppenhaft wirken sie, wenn sie sich gegen das riesige Sitzmöbel behaupten sollen. Permanentes Spiel mit den Dimensionen, mit Groß und Klein, hat ja auch was Eindimensionales, aber don't worry, we're happy: Tiefgang erwarten wir nicht an diesem Abend.
Wollen wir auch nicht, obwohl der bedauernswerte Rezensent, der sich Abend für Abend auf viel kleineren Sitzmöbeln in den Theatern dieser Welt die Oberschenkel bricht, vollkommen bescheuerte, weil weit hergeholte Assoziationen hat – siehe Wiener Wald. Oder Katie Mitchell: Immerhin macht der Herr Günther unten im Orchestergraben immer die Kurbel- und Knarz- und Knallgeräusche zu den Dick- und Doof-Kunststückchen und Louis-de-Funès-Ticks, die sich rund ums Söffaken abspielen. Geräusche unten, Bilder oben: Das macht Frau Mitchell viel virtuoser, aber bei der ist das immer traurig, und bei Fritsch schreien wir uns weg. Da bringt sich auch keiner um – da laufen sie nur mit dem Kopf vor die Armlehne, springen wie vom Trampolin gebissen aus dem Nichts über den Sofarücken, plumpsen auf den Po und pupsen. Winzige Ansätze von Harmonie werden ebenso schnell wieder gebrochen wie später ein paar Takte des glockenhellen Soprans von Ruth Rosenfeld. In all dem Gewusel sitzt still und mit debilem Grinsen Matthias Buss auf der Chaiselongue, klein und dick und untersetzt, eine Art dümmlicher Impresario vom Luxemburg-Platz, eine orientalische Pascha-Puppe auf einem Jahrmarkt-Karussell.
Drama, Wahnsinn, Kinderlachen. Da wird Verstecken gespielt und „Kuckuck“ gerufen; Wolfram Koch spielt Auto mit seinem Schuh, grazile Hallodris tanzen zur Polterabend-Musik, und Ruth Rosenfeld beweist, dass sie die Muskeln für die virtuose Akrobatik, die sie gemeinsam mit den übrigen Schauspielern vollführt, noch ganz woanders hat: Lasziv, gierig, gefährlich… züngelt sie. Was für eine Schlange! Irgendwo muss sich auch das Phantom der Oper verbergen. Oder eher ihr Gespenst: Immer wieder gibt es Erschrecken, immer wieder ironische Film-Bilder. Nora Buzalka und Werner Eng geben eine Art Rhett Butler und Scarlett O'Hara (oder sind es Rick Blaine und Ilsa Lund aus „Casablanca“?), Florian Anderer steht in Feldherren-Pose auf der Sofalehne und hält Ausschau nach dem Feind, Wolfram Koch vollführt ein paar Zaubertricks, und ab und zu sorgen ein paar ganz kurze tableaux vivants für kurzes Innehalten – Innehalten aber, nicht um zur Ruhe zu kommen, sondern um in Ruhe lachen zu können. Hubert Wild brabbelt eine ungeheuer wichtige, dummerweise vollkommen unverständliche Rede, und alsbald wird ihm mit einem langen, langen hölzernen Ast das Gebiss heile gemacht. Bedrohlich röhrt der Zahnarzt-Bohrer.
Herbert Fritsch goes Opera? Nein, Fritsch goes Circus, goes Musikkabarett. Voller anarchischer Lust am Unsinn – und doch immer wieder mit intelligenten Assoziationen. Manchmal entstehen sogar wirklich schöne, ästhetische Puppenbilder, die bisweilen sogar die düstere Magie von Alice im Wunderland annehmen. Manchmal ist es ein Totentanz von Zombies – Herbert im Volksbühnenland. Im Grunde ist dem oberflächlichen Quatsch eine tiefe Tragik unterlegt. Wir nehmen's aber, fraglos mit großer Berechtigung, als herrlichen Unsinn. Siebenundsiebzig Minuten dauere die Aufführung, heißt es im Programmheft. In Siegen kam das ungefähr hin. Es soll Aufführungen gegeben haben, die fast 25 Minuten länger dauerten. Wir hätten uns auch dann nicht gelangweilt.