Die Fledermaus des Bösen
Im Grunde ist doch alles gut, wenn ein erfahrenes, gebildetes Theaterpublikum im vollen Haus glücklich ist, sich nach längerem Anlauf sogar zu kurzem rhythmischem Klatschen aufrafft und an der Garderobe und auf den Treppen zum Parkhaus von dem „schönen Abend“ und dem „tollen Stück“ schwärmt. Wenn der Kritiker nicht gar so glücklich war, sollte es für ihn heißen: Mund abwischen, Maul halten!
Und das ist nicht einmal ironisch gemeint. Denn mit der letzten Szene hatte Regisseur Anselm Weber dem Rezensenten tatsächlich das Lästermaul gestopft. Da geriet plötzlich der ach so sichere Komödienboden, auf dem sich Kleists Zerbrochner Krug scheinbar in erwartbarer Volkstheater-Manier abgespielt hatte, ins Wanken, und manches irritierende Zeichen, das die Inszenierung zuvor gesetzt hatte, bekam plötzlich einen tieferen Sinn. Was hören wir da zum Schluss bezüglich des Kriegseinsatzes von Evchens Verlobtem Ruprecht? Zur Truppe nach Utrecht soll er. Und dann? Muss er vielleicht doch nach Ost-Indien, in den (fast) sicheren Tod? Das Commitment des in Kleists Lustspiel sonst als seriöser Retter in der Not und Wiederhersteller der Ordnung auftretenden Gerichtsrats Walter scheint brüchig. Stattdessen nähert er sich dem Evchen gefährlich nahe zu einem Kussversuch. Ruprecht samt Eve nach Utrecht, wo auch der Gerichtsrat residiert, dann aber Ruprecht ohne Eve nach Indien: Da wird ein Schuh draus, nämlich die Fortsetzung von Evchens schockierenden Erfahrungen mit den erotischen Gelüsten mächtiger Männer. Rückendeckung an potentieller Feindfront sprich im ansonsten braven, aber etwas dämlichen Huisum sichert man sich, indem der gerade suspendierte korrupte, im Verlauf des Stücks vollends desavouierte Huisumer Dorfrichter Adam wieder eingesetzt wird („Die Kasse und die Bücher werden ja wohl stimmen“). Er wird eventuell gegen die Willkür des Gerichtsrats aufbegehrende Landpommeranzen schon in Schach halten. Eve dagegen verliert jegliches Vertrauen in Obrig- und Gerichtsbarkeit. Wenn sie Erich Frieds wunderbare Übersetzung von Shakespeares Wintermärchen kennen würde, wüsste sie: Gegen Geilheit helfen keine Barrikaden. Der Feind geht täglich rein und raus.
Das ist doch ein feiner Schluss, den sich Anselm Weber aus verschiedenen Kleist'schen Fassungen des Dramas zusammengeklaubt und dann weiterentwickelt hat. Auf den letzten Drücker löst er sein Versprechen ein, dem Zuschauer am Schauspielhaus Bochum eine Neufassung des Lustspiels zu präsentieren. Bis dahin nimmt alles seinen Lauf, wie es im Buche steht, von minimalen kleinen Gesten und Blicken abgesehen, denen man aber zunächst kaum Bedeutung schenkt. Weber hat ein famoses Ensemble zusammen, so dass das alles wirklich unterhaltsam ist. Aber scheinbar auch: furchtbar erwartbar. Gespielt wird: die Komödie, angemessen changierend zwischen burlesk und reclam-kompatibel. Mit einem Star in der Hauptrolle, dem netten, etwas unbeholfenen Kölner Tatort-Kommissar Dietmar Bär als Dorfrichter Adam, der denn auch routiniert und schalkhaft kleine Anleihen bei seinem Freddy Schenk nimmt, aber beweist, dass er auch auf den Brettern, die dem wahren Schauspiel-Freund die Welt bedeuten, eine gute dickliche Figur und einen den Kleist-Versen gewachsenen ernsthaften Komödianten abgeben kann. Verschmitzt und verschlagen zu Beginn, dummdreist und kumpelhaft beim Zusammentreffen mit dem Gerichtsrat, huscht ab und an fast unmerklich ein Ausdruck der Lüsternheit über sein Gesicht. - Bei ihm zu Hause wirkt ein entzückendes Hausmädchen, das den Filou und Schürzenjäger weit mehr durchschaut als ihr hierarchisch zusteht: Xenia Snagowskis temperamentvolle und bauernschlaue Magd hat so gut wie nichts zu sagen und so gut wie keine Funktion im Text, macht daraus aber eine kleine Extra-Show, die ihr die Herzen der Zuschauer zufliegen lässt.
Die Herzen erobert auch die unglückliche Eve. Gleich zu Beginn erzählt sie ein wenig umständlich, aber anrührend dem Publikum schon mal alles, was zuvor geschah – bevor der beim Fluchtversuch aus ihrer Jungfernkammer verletzte, zudringlich gewordene Dorfrichter erwacht und den turbulenten Tag erleben wird, der mit seiner Absetzung endet. Hier greift Weber auf eine Frühfassung des Dramas zurück, die den Gerichtsprozess nicht als Whodunnit erzählt, sondern Spannung und komödiantischen Lustgewinn daraus bezieht, wie sich der mehr und mehr in die Enge getriebene Täter aus der Affäre zu ziehen versucht. Es ist die Fassung, mit der Goethe bei seiner Uraufführung des Dramas im Jahre 1808 in Weimar auf die Nase gefallen ist und die auch Bastian Kraft in seiner beim „Akzente“-Theatertreffen in Duisburg 2013 gezeigten Fassung vom Thalia Theater Hamburg gewählt hat
Man weiß also Bescheid, und wenn die Komödien-Mechanik abrollt, kann der Zuschauer das Gleiche tun - vor Lachen. Noch ahnt man nichts vom intelligenten Schluss und glaubt, weniger kritische Satire als gehobene Ohnsorg-Klamotte zu erleben. Raimund Bauers Bühnenbild symbolisiert die Zustände der niederländischen Dorfgerichtsbarkeit und der bürokratischen Ordnung: Sämtliche Räuber aus Huisums Wäldern scheinen im Bochumer Schauspielhaus gewütet zu haben. Umgestürzte Möbel liegen zwischen unzähligen großen und kleinen zusammengeknüllten Papierfetzen (vermutlich den Gerichtsakten) herum – Xenia Snagowski, das wohlerzogene Mädchen aus dem ordentlichen Kleinbürgerhaushalt, irrt ein wenig verstört mit dem Besen darin herum, vermag aber in dem Chaos und der Verkommenheit der Gerichtsbarkeit ebenso wenig Ordnung zu schaffen wie im Kopf ihres Herrn und Meisters Adam. Den Schreiber Licht, der letztlich wohl selbst von einem Aufstieg zu höheren Weihen in der Dorfgerichtsbarkeit träumt, haben wir schon in höchst unterschiedlichen Deutungen gesehen. Roland Riebeling hat sich in Bochum für eine dezidiert komödiantische Spielweise entschieden: etwas trottelig, manchmal reichlich clownesk aufgedreht, durchschaut er die Machenschaften seines Chefs von Beginn an und erkennt im letzten, aber wohl exakt richtigen Moment, dass er seine Loyalität aufgeben muss.
Adam mag seine Demontage verdient haben, aber Licht wird in diesem Moment zur miesen Ratte. Sollte er in Zukunft Adams Nachfolge antreten, ist zumindest eines sicher: Auch weiterhin wird man vor Gericht und auf hoher See nicht vor bösen Überraschungen gefeit sein. Dies zu ändern, tritt bei Kleist eigentlich der Gerichtsrat Walter an. Von ganz hinten aus dem Parkett nähert er sich, in feinstem schwarzem Zwirn mit schwarzer Krawatte. Doch ist er angetreten, Huisums korruptes Rechtssystem zu beerdigen? Smart und schlank, die spillerigen langen Arme mit fast ebenso langen eleganten Lederhandschuhen bedeckt, muss er dem Dorfrichter vorkommen wie eine Fledermaus des Bösen. Sein Outfit bildet zwar den denkbar größten Kontrast zur historisierenden Kleiderordnung der rückständigen Dörfler, aber Vertrauen erweckt es nicht. Marco Massafra erscheint ein wenig blass, wenn auch präzise in der Sprache. Aber den Kontrast zu Dorfrichter Adam, den Kleist in der Rolle angelegt hat, vermag er ja auch in moralischer Hinsicht nicht zu bilden, wie wir eingangs beschrieben haben. Unbestechlich wie ein Fels in der Brandung ist nur Anke Zillich in ihrem kurzen, aber einprägsamen Auftritt als Frau Brigitte, während Katharina Linder als Marthe Rull ein wenig zu sehr auf Ohnsorg-Effekt setzt.
Es gab in den letzten Jahren mutigere Inszenierungen des Kleist'schen Kruges in NRW zu sehen: Neben dem erwähnten Gastspiel des Thalia Theaters ist vor allem Dušan David Parizeks nach der Premiere konzeptionell noch weiterentwickelte Inszenierung am Düsseldorfer Schauspielhaus zu nennen. Anselm Weber hat, nicht ohne zwischenzeitlich markante Spotlights auf besonders gelungene Formulierungen der Kleist'schen Sprache zu werfen, bei der traditionellen gefälligen Spielweise des Stückes angesetzt und sein Publikum erst zum Schluss herausgefordert. Wer bis zum nachdenklich machenden, pessimistischen Ende genau hinhört, weiß, dass in dieser Komödie eigentlich nicht allzu viel zum Lachen ist ...