Besessen vom Drang nach Erkenntnis
Goethes Faust ist eines der urdeutschen Werke der Dramenliteratur. Das Stück erzählt vom Wesen des Menschen, seiner Suche nach Erkenntnis, dem Streben nach Größe. Es fragt nach Moral und Religion, nach der Reinheit der Liebe und nach Gott.
Faust ist ein Wissenschaftler, ein Chemiker, in dessen Tiegeln die Elemente zusammengefügt werden. Kreativ ist er nicht. Er hat eine Sehnsucht, die er nicht beschreiben kann. Und gerade weil er sich in diesem Zwiespalt befindet, weiß Faust zu Beginn nicht, wohin er sich wenden soll. Schwankend zwischen Selbstzweifeln und Anmaßung, will er alles wissen. Mephisto, Fausts teuflisches Alter Ego, tritt auf den Plan und verspricht, ihm die Welt zu Füßen zu legen: „Ich gebe dir, was noch kein Mensch gesehn“. An der Seite Mephistos stürzt sich Faust ins Leben, in die Liebe. Er trifft Gretchen, verliebt sich in sie und reißt sie ins Verderben. Gretchen wird schwanger, sie tötet ihr Kind. Im Kerker, wo sie auf die Hinrichtung wartet, wird sie wahnsinnig.
Der österreichische Regisseur Georg Schmiedleitner brachte Faust I in stark gekürzter Version auf die Bühne. Zweifelsohne im Mittelpunkt der Inszenierung: Stefan Hunstein als ein ungemein fesselnder Faust, besessen von seiner Suche nach Erkenntnis, die er jedoch zunächst gar nicht näher zu definieren weiß. Er möchte aus seiner Schale herauskommen, weiß aber nicht, wohin er sich wenden soll. Wir sehen ihn in einem grauen, bunkerartigen Gewölbe mit vier Lichtscharten im Dach. Ein Computerdrucker spuckt Endlospapierbahnen aus, ein ganzer Berg davon hat sich bereits aufgetürmt. Kein Vorspiel auf dem Theater, kein Prolog im Himmel. Faust klappt seinen Laptop auf und spricht die bekannten Worte: „Habe nun, ach,… Philosophie studiert“. Der Text erscheint als Projektion an der Rückwand der Bühne. Ungewöhnlich aus der Sicht traditioneller Faust-Inszenierungen. Aber Dank Hunstein ein sinnvoller Ansatz, verkörpert dieser doch den sich vor Wissensdurst Verzehrenden so intensiv und glaubhaft: „Ich fühle mich bereit, auf neuer Bahn den Äther zu durchdringen“.
Sein Famulus Wagner (gut: Konstantin Bühler) ist hier mehr ein Wissenschaftsnerd (in grauem Pulli, grauer Hose, mit Nerdbrille), der in einem Exkurs sich zu neueren Erkenntnissen der Cytologie bzw. der Molekulargenetik äußert – so u.a. den Bau von Biomembranen (Lipiddoppelschicht mit Proteinen) oder die Proteinbiosynthese erläutert oder über „tools now available to the microbiologist“ spricht. Ein sinnvoller Texteinschub in den Originaltext, geht es dort doch auch um die Grenzen bzw. Möglichkeiten der Wissenschaft.
Schmiedleitner lässt Mephisto gleich in einer Viererversion auftreten (Jakob Schneider, Karin Pfammatter, Katrin Hauptmann, Thiemo Schwarz). Eine nicht neue Idee. In Bochum traten 2010 in Mahir Günsirays Faust-Inszenierung gleich acht Teufel auf. Diese Idee macht Sinn, wenn der diabolische Chor auf vielfältige Weise Faust beschwört, ihn zu verführen sucht, ihn in seinen Ideen bestärkt und ihn antreibt. Wobei die Stimmen der Mephistos nur ganz einfach wiedergeben, was Faust ersehnt. Er selbst nutzt den Pakt mit dem Teufel, um hemmungslos ausleben zu können, was ihm vorschwebt. Und zerstört dabei alles, was ihm begegnet, auch die Liebe zu Gretchen.
Katharina Lütten spielt Gretchen. Zunächst springt sie als naives junges Ding auf die Bühne (in einem Kleinmädchenkleid, mit weißen Söckchen). Glaubhaft ihre Metamorphose zu einer Faust hörigen Geliebten. Ungemein beeindruckend ihre Verzweiflung ob des Bruders Tod und schließlich ihr Verfall in den Wahnsinn.
Eine ungewöhnliche Faust-Interpretation. Sehenswert allemal die schauspielerische Leistung des Ensembles. Beeindruckend so manches Bild, wie zum Beispiel die trubelige, taumelnde Walpurgisnacht-Szene. Überflüssig so mancher Song oder Kostümwechsel (warum müssen die Mephistos zum Ende „sündiges Rot“ tragen?). Oder auch der zuweilen unnötige Einsatz der technischen Mittel der Bühne (Stichwort: Drehbühneneinsatz um des Drehens willen).
Insgesamt aber ein oft packender, verkürzter Faust mit einem grandiosen Protagonisten, der manch erfrischenden Akzent setzt.