Eiertanz in der Schweinediktatur
Haben Sie schon mal kaputte Glühbirnen gekauft? Nein? Dann haben Sie vielleicht das Glück gehabt, mit den Segnungen der Sozialen Marktwirtschaft aufgewachsen zu sein. In Russland konnte man zu Zeiten der Sowjetherrschaft auf den wilden Märkten, auf denen die Babuschkas ihre privaten Himbeeren feilboten und wenig vertrauenerweckende Gestalten gebrauchte Autoteile unters Arbeiter- und Bauernvolk brachten, für wenig Geld solch funktionsunfähige Lichtquellen erstehen. Die Genossinnen und Genossen Sowjetbürger schraubten die kaputten Birnen in die Lampen ihrer Arbeitsstätte und nahmen die heilen aus dem Büro mit nach Hause. Im heimischen Wohnzimmer wurde Licht. Ein solches ging auch dem westlichen Besucher auf: Sozialismus funktioniert nicht.
Und Stalinismus erst recht nicht. Merkte auch George Orwell, als er im Spanischen Bürgerkrieg auf der Seite der Republikaner kämpfte und mehr mit innerparteilichen „Säuberungen“ denn mit Erfolgen im Kampf gegen Franco konfrontiert wurde. Sein im Jahre 1945 erschienener Roman Animal Farm wurde zur Parabel auf den scheiternden Sozialismus in der UdSSR. Snowball, so sagt man, sei Trotzki; Napoleon sei Stalin. Snowball und Napoleon sind Schweine auf dem Hof von Mr. and Mrs. Jones. Die Bauersleut' erleben ein veritables New Farm Schweine Desaster, denn Napoleon und Schneeball zetteln eine Revolution an: Fury in the Slaughterhouse. Den Tieren gelingt der Umsturz der alten Ordnung und die Eheleute Jones verlassen die Farm. Alle Tiere seien gleich, heißt es nun, „whoever goes on two legs, is an enemy, and whoever goes on four legs or has wings is a friend“. Die Oberschweine erlassen die Sieben Gebote der animalischen Revolution, von denen das zitierte bei Showcase Beat Le Mot zur Hymne des neuen Tierreichs wird. Doch es kommt wie es halt kommt in den meisten sozialistischen Musterstaaten: Gebt den Schweinen das Kommando, dann wissen die sehr wohl, was sie tun. Sich Privilegien sichern zum Beispiel. Stalin, Honni, Ceausescu - schnell schwingen sie sich auf zu diktatorischen Herrschern. Snowball und Napoleon verwandeln sich in Menschen. Und weil Menschen nun mal schlecht sind, funktioniert das nicht mit der Gleichverteilung aller Güter und es passieren Dinge wie mit den kaputten Glühbirnen. Und mit der Gleichverteilung aller Rechte funktioniert es erst recht nicht. Some animals are more equal than others ...
Die vier inzwischen etwas angejahrten Berliner „Showcase“-Jungs, die bereits seit 1998 mit ihren höchst postdramatischen Performances durch die Lande tingeln, haben von Orwells Parabel nur ein paar wesentliche Korsettstangen übrig gelassen, aber sich auch Gedanken gemacht, was eigentlich nach der Geschichte passiert. Dabei sind sie mit ihrem typischen eigenwilligen, ein wenig rauen Humor vorgegangen, den schon der wundersam skurrile Theaterraum ausstrahlt. Von Bühne mag man gar nicht reden, denn wenn die Zuschauer so mutig sind wie Veit Sprenger, Dariusz Kostyra, Thorsten Eibeler und Nicola Duric sich das wünschen und nicht so schüchtern wie die Düsseldorfer, dann laufen Bühnen- und Zuschauerpersonal bald munter umeinander rum und geben die Trennung zwischen Spielfeld und Zuschauertribüne vollständig auf. Sogar eine Black Box gibt es, in die sich die Zuschauer zurückziehen können, um auszusteigen aus dem Stück: Bei Showcase Beat Le Mot werden die Zuschauer nicht abgeholt, sondern abgegeben, wenn sie sich nicht mehr auf das Theater konzentrieren wollen. In der Kiste sieht man die Hand vor Augen nicht und stolpert munter über die verschiedenen Gummibälle, die unter einer schwarzen Plane liegen - eine Hüpfburg als Hindernis-Parcours mitten im Theater hatten wir noch nie. Da juchzen die jugendlichen Zuschauer und staunen nicht schlecht, wenn sie später erfahren, dass man sie draußen im Zentrum des Theaterraums nicht nur gehört, sondern auch gesehen hat bei ihrem Versuch, der Konzentration auf die gespielte Schullektüre maximal auszuweichen. Eigentlich sei die fröhliche Kiste eine Art Anti-Utopie, sagen die Performer: Man glaube sich unbeobachtet und frei vom Theatergeschehen, finde sich aber in die Performance integriert. Die Black Box sei ein Äquivalent zum Stall, der auf der Farm die Freiheit begrenzt und aus dem es kein Entrinnen gibt. (Da muss man erstmal drauf kommen - ob die Jungs diesen Gedanken schon hatten, als sie die Kiste erfunden haben?)
Im Zentrum der Aufführung und des Raumes aber steht ein anderes Bauwerk: Die Performer nennen es ihren Turm – tatsächlich klettern sie schon mal dran hoch und liegen auf dem Dach, aber eigentlich wirkt das Gebäude wie eine Prekariatsversion des unweit vom Forum Freies Theater stehenden, derzeit vom Weihnachtsmarkt umzingelten Musikpavillons. Blickt man sich weiter um, findet man merkwürdige Kunstwerke an den Wänden, die Tiere, Menschen und Mischformen beider Kreaturen darstellen; Felle hängen von den Decken, riesige totem-artige Masken stehen in den Ecken. Dubstep Musik wummert, eigens komponiert von Albrecht Kunze, und immer wieder tanzen die vier Performer mit ruckenden Gliedmaßen einen dumpfen Eier- … äähh Hühnertanz als stünden sie unter Drogen. Die Kuh macht Muh, die Schafe meckern dazu: Hühner, die blöden Schafe sind Tiere ohne Namen. Sie bilden eine anonyme Masse. Nur die Schweine haben Namen – und sie sprechen. „Wer spricht, denkt – die anderen tanzen“, heißt es bei Showcase Beat Le Mot lakonisch, und damit deutet sich das Scheitern der Revolution schon an. „Willkommen im Zeitalter des Schweins!“
In dem erstmal Umerziehung gefragt ist. In der Schweineschule lernen die Tiere: Alles Gute kommt von oben. Und oben ist Napoleon. Ein diktatorischer Lehrer bellt im Kasernenhof-Ton und fragt nach dem Wohltäter, der Recht und Ordnung, soziale Sicherheit und Bildung ebenso gewährleistet wie den Schutz vor Hunger und Not. Chorisch schallt es von den Schülern zurück: „Comerade Napoleon“ - Kim Jong-un hätte seine helle Freude. Bald tauchen auch die Machtinstrumente des alten, eigentlich abgeschafften Systems wieder auf: Die Peitsche, die auf Jones' Bauernhof für Unterdrückung stand, wird zur „Motivationsmaschine“, die Schnur, mit der die Ställe versperrt wurden und die der Versklavung der Tiere diente, mutiert zur „Protektionsmaschine“. Skeptische Fragen dummer Hühner oder Schafe werden von oben herab beantwortet; unterwürfig werden die Antworten entgegen genommen. Schon haben die Schweine erkannt: „The one who controls communication ist the one who controls history.“ Freie Wahlen gibt es in der Diktatur auch: Das Volk wird für dumm verkauft. Wenn der Kandidat vier Beine hat, gehört er zu den Guten. - Die Allianz zwischen Snowball und Napoleon ist im übrigen schnell entzweit: Wir kennen die inszenierte Geschichte mit der Windmühle, deretwegen Snowball fliehen muss, noch aus der Schule. Ein Diktator duldet keinen zweiten neben sich – zweiter Mann im Staate neben Kim Jong-un oder gar sein Mentor und Erzieher zu sein, ist bekanntlich auch nicht vergnügungssteuerpflichtig. Hartnäckig halten sich Gerüchte, dass man in solcher Position auch schon mal von 120 Hunden zerfleischt wird.
Für ihre Verhältnisse erzählen Showcase Beat Le Mot Orwells Geschichte überraschend nachvollziehbar und trotz gelegentlicher Zeitsprünge linear. Dem geneigten Schüler, der das Buch gerade im Unterricht durchnimmt, geben sie sogar die Kapitel des Romans an, in dem sie sich gerade befinden. Und doch wirkt die Erzählweise erfrischend subversiv. Ständig werden die Erzählebenen gewechselt: man spielt, man tanzt oder brummelt oder gackert oder singt mehr als dass man redet – und dann berichtet man, wie man sich dabei fühlt. Beim Tanzen – und bei der Geschichte. Die Inhalte und Anliegen des Romans werden in komprimierter Form, aber vollkommen entspannt und ohne Angst vor gelegentlichem Leerlauf wiedergegeben – prägnant und komisch, skurril und manchmal mit grimmigem Humor. Gegen Ende löst sich Erzählstruktur mehr und mehr auf – die Performer beschließen, aus der Geschichte auszusteigen: „Sie gefällt uns nicht mehr.“ Subversiv ist auch der ständige Wechsel zwischen Deutsch und Englisch: einem manchmal abenteuerlichem Denglisch, das den Lehrern die Schamesröte ins Gesicht treibt, aber manchmal von erlesenem Witz und oft von der großartigen Dummheit ist, die wir schon vor vierzig Jahren von Schobert & Black und ähnlichen intelligenten Blödel-Gesellen kannten. Tanz, Pantomime, Musik und Sprache verleihen der Aufführung bisweilen eine ganz eigenartige Form von Poesie.
In der Black Box hielt es den Schreiber dieser Zeilen nicht lange: Schnell beschlich ihn das Gefühl, er könnte draußen was verpassen …