Zombies einer längst verstorbenen Liebe
Eigentlich konnte an diesem Abend gar nichts schief gehen. David Schalko geht ein Ruf wie Donnerhall voraus: In Österreich sei er weltberühmt, heißt es im Programmheft; mit den TV-Serien Braunschlag und Das alte Geld habe er in der Alpenrepublik das Fernsehen revolutioniert. Seine allererste Theaterarbeit in der ganzen Welt basiert auf einem realen Mordfall, dessen Zusammenfassung jedem Freund des Splatter-Krimis das Wasser im Mund zusammenlaufen lässt; der Mann aus dem Land von Hansi Hinterseer will das Ganze als „Singspiel“ inszenieren, hat aber mit dem norwegischen Musiker Kyrre Kvam einen Musiker engagiert, von dem wir uns ein bisschen Skandinavien-Pop erhoffen und der schon die sagenumwobene Musik für Braunschlag komponiert hat. Um dem Leser schon mal jede Spannung zu nehmen, halten wir fest: Kyrre Kvam überzeugt – der Rest ist eher enttäuschend.
Das heißt: eigentlich nicht. So schnell kann man gar nicht die Ohren spitzen, wie sich die schwarzhumorigen oder einfach nur bösen oder witzig wortspielerischen Sentenzen in Schalkos Stück jagen. „Die Schuld ist immer ein ungebetener Gast. Man muss sie nur bitten, rechtzeitig zu gehen“, heißt es da einmal in der von Unfällen, Geistern und Toten bevölkerten Story. Oder: „Wir sind Zombies einer längst verstorbenen Liebe“ - hui, wie viele Zuschauer mögen sich in diesem Moment gefragt haben, ob diese Beschreibung nicht auch auf ihre eigene Beziehung zutrifft. Oder, eher kalauernd: „Ich will nur wissen, wie es steht, / ob dein Herz noch nach mir kräht.“ Das ist kein unbeholfener Reim, das ist irgendwie subversiver Austro-Pop. - Ach ja, die Liebe. „Die wahre Liebe ist wie ein Gespenst: Jeder spricht davon, aber keiner hat es wirklich gesehen“, zitiert das Programmheft den französischen Aphoristen La Rochefoucauld, und so geistert eine ganze Riege Enttäuschter, Versehrter und Zurückgewiesener durch Schalkos Stück, Opfer der Liebe, krank, unfähig und süchtig nach Zuneigung. Da ist irgendwas schief gelaufen in dieser Geschichte mit Adam und Eva. „Es gibt kein Paradies, es gibt nur Äpfel“, heißt es in Schalkos Inszenierung. Haufenweise kullern die auf der Bühne des Kölner Schauspiels herum.
Kimberly hat zwei ihrer ehemaligen Liebhaber zu Hackfleisch gemacht und in ihrer Eisdiele eingemauert. „Eislady“ hat man die vor gut drei Jahren zu lebenslanger Haft verurteilte Original-Kimberly in ihrer österreichischen Heimat genannt. Das ist die austriakische Version des „Angels with Ice Eyes“-Titels, den Amanda Knox für sich beanspruchen darf. Kimberly kommt bei Schalko gerade aus dem Gefängnis, als das Stück beginnt – die Mord-Geschichte bildet nur die Folie, auf der sich die eher dürftige Handlung seines Stücks abspielt. Yvon Jansen wechselt Kleider und Perücken als sei sie ständig auf der Flucht vor sich selbst. Die Männermörderin hat bei ihrer Freilassung auch einen neuen Namen zugeteilt bekommen, doch: „Ein neuer Name macht noch keine neue Identität.“, Ausnahmsweise einmal ein weiser Spruch ihrer Therapeutin. Psychologin Sabine Waibel ist ansonsten eine ziemlich durchgeknallte Schrapnell, die furchtbar verliebt in ihre Patientin ist. Das könnte lustig sein, nervt aber. Yvon Jansen dagegen bleibt im Wesentlichen Yvon Jansen, wie häufig auch immer sie ihre Klamotten wechselt. Anchor Persons in dieser Inszenierung sind beide nicht.
Das ist schon eher Yuri Englert als Dorfpoet Konrad, ein Alpen-Blaubart, dem zwar die Herzen aller Frauen zufliegen, der sie aber alle um die Ecke zu bringen oder zumindest abgrundtief zu enttäuschen droht – einschließlich Kimberly, mit der er eine ganze Halbzeit lang anbändelt. Er ist charmant, sieht gut aus und hat einen Text und eine Diktion, die gelegentlich tatsächlich eine märchenhafte, ironische Poesie ausstrahlen. Im Gegensatz zu Kimberly bringt Konrad seine Partnerinnen unfreiwillig an den Rand des Todes – er ist ein schlechter Autofahrer. Bei einem Unfall wurde die Freundin seines besten Freundes getötet und seine eigene zu einem monatelangen Leben in einem medizinischen Ganzkörperkondom verurteilt - Annika Schilling als dennoch kecke, aber recht gefrustete Freundin und Stefko Hanushevsky als vom Tod seiner Gespielin offenbar unbeeindruckter fröhlicher Trompetenspieler machen schauspielerisch aus dem Abend, was sie können. Der krankt nämlich eher am Stück, vielleicht auch an der Inszenierung als an den Schauspielern.
„Jede Familiengeschichte ist eine Geistergeschichte“ heißt es einmal. Mal abgesehen davon, dass dies wieder einer der Sätze ist, die man sich auf der Zunge zergehen lassen kann, beschreibt es auch Schalkos dramatischen Versuch. Er experimentiert mit sämtlichen Spielarten des Geister- und Horrorfilms; Schattengestalten bevölkern die Szenen, Sabine Orleans, anfangs noch quicklebendig, irrt als Tote quer über die Bühne, ein dreiköpfiger Chor der Geister tritt auf. Tolle Songs und großartige Musik, von Kyrre Kvam, Doro Bohr und Ella Rohwer live performt hoch droben auf einer Mauer, die über weite Strecken der Inszenierung die Bühne teilt und als Projektionsfläche für Nazgol Emamis und Peter Baurs Videos dient, versuchen der Inszenierung auf die Sprünge zu helfen. Und doch funktioniert das Ganze nicht. Schalkos Sprache giert geradezu nach Originalität, doch spätestens nach 45 Minuten des zweieinhalbstündigen Abends befallen den Zuschauer Zweifel, ob der Schalko-Ton mit seinen zitierfähigen Sentenzen theatertauglich ist. Daran zerbrechen letztendlich auch die lange Zeit bravourös kämpfenden Schauspieler, und als in der Schluss-Szene endlich klar wird, wer das Geisterspiel um die Krone des Unglücks- oder Todesengels gewinnt, die mauernde Kimberly oder der automobile und emotionale Geisterfahrer Konrad, nehmen wir das nur noch durch einen Müdigkeitsschleier wahr.
Auf der Rückfahrt geht dem Rezensenten doch noch ein Gedanke durch den Kopf: Tolle Musik, Videos, eine trashige Story mit triefender Ironie emotional aufgehübscht – das ist doch die Domäne des Schauspiels Dortmund. Dort hat Kay Voges sicher weniger Geld zur Verfügung als das Schauspiel Köln. Warum gelingen ihm solche Kunststückchen dann um Lichtjahre besser? - „Psst, du sollst nicht vergleichen“, sagt meine Lieblingsfrau. Gegen Vergleiche ist sie allergisch. Ich sag nix mehr, sonst mauert sie mich ein.