Nur wir lieben das Land
„Ist die deutsche Mutter wieder im Irrtum, obwohl sie liebt, wie man nur lieben kann?“, fragt der Chor. Wer denkt in diesem Moment nicht an „Mutti“ Angela Merkel und ihre Flüchtlingspolitik? Vielleicht ist Angie ja eine unbeugsame Mutter Courage. Ihr „Wir schaffen das“ hat Marta Górnicka literarischer formuliert: „Auf meinem Planwagen ist Platz für alle.“ Für das Christentum sowieso, für das Judentum, und: „Auch der Islam gehört zu Deutschland.“ - Andererseits: War Mutter Courage nicht auch diejenige, die mit dem Krieg Geschäfte machte? Die den Krieg zwar nicht befürwortete, ihn aber als gegeben hinnahm – und als Opportunität für ihr kleines, aber florierendes Handelsgeschäft? Im 21. Jahrhundert könnte das also etwa so gehen: Deutschland liefert Waffen an Saudi-Arabien, die Saudis finanzieren den Islamischen Staat und bekämpfen den Iran, die Deutschen bekämpfen den Islamischen Staat und verdoppeln in den nächsten zwei Jahren ihre Iran-Exporte, sie fürchten Terroristen aus Syrien und öffnen den Syrern, die vor dem Islamischen Staat und vor Assad flüchten, alle Grenzen, wissen aber noch nicht, ob sie Assad auch bekämpfen sollen, sie sind überzeugte Friedensstifter und religiös tolerante weise Nathans und und verlieren Soldaten im Kriegseinsatz in muslimischen Staaten. Und Mutter Courage, die tapfere Angela, die liebt, wie man nur lieben kann, behält bei allem den Überblick? „Wahrlich, ich sage euch, dieser Krieg wütet gegen uns“, heißt es in Górnickas Inszenierung: „Unser eigener Arm kämpft gegen uns.“
Aber lassen wir das. Der Rezensent tut gerade, was er in der Schule gelernt hat: Er ordnet und interpretiert. Das aber widerspricht dem Aufbau und wohl auch der Intention von Górnickas „Libretto“, wie sie selbst es nennt. Denn der collageartige Text bildet die Basis für ein wildes Wortkonzert, ein Übereinander, Gegeneinander und Durcheinander widersprüchlicher Stimmen. Und doch beschreibt Górnickas Inszenierung das Chaos mit einer Präzision, die ihresgleichen sucht. Sie brüllt die Widersprüchlichkeiten unserer Welt im Stakkato hinaus, singt in einer harmonischen Liturgie vom Feuer der Liebe in unseren Herzen, schreit Befehle, die aus einem Foltergefängnis zu stammen scheinen, während gleichzeitig ein Chormitglied das Rezept einer Kartoffelsuppe spricht. Es sind die Widersprüche eines Landes, das Deutschland heißt, es sind, vielleicht, eingesammelte Extreme einer virtuellen oder auch tatsächlichen Deutschland-Reise, von Pegida bis zum Libertinismus, von der Askese bis zur orgiastischen Wut. „Sprechen wir über das, worüber andere schweigen“, heißt es da: Und dann bricht erst langsam und leise, bald immer schneller und lauter ein anschwellender Bocksgesang los, ein wildes, nicht mehr zu verstehendes Durcheinandergemurmel. Es sind die vielschichtigen und ungeordneten, aber kaum noch Gehör findenden Äußerungen unserer demokratischen Gesellschaft. Bald aber lösen die sich auf in einem aggressiven chorischen „Wir sind das Volk!“, radikal und bedrohlich: „Wir alle! Nur wir! Lieben das Land!“
Und zart, einfühlsam und harmonisch geht es weiter: „Alles nur, weil ich dich liebe ...“ - „No Limits“ hat die Freiheit der Bürger dieses Landes, auch nicht in der Liebe. Denn wir sind ein offenes Land: „Alle, die nicht hier hergehören, sollten das Land verlassen.“
Die polnische Regisseurin Marta Górnicka hatte im Jahre 2012 beim „Fast Forward“ Festival für europäischen Regie-Nachwuchs den 1. Preis gewonnen: eine Inszenierung am Staatstheater Braunschweig. Und die ist sowas von fast forward, dass man es kaum in Worte fassen kann: nur 45 Minuten lang, aber mit einem solchen Feuerwerk an gedanklichen und ästhetischen Brüchen, wie sie andere Regisseure kaum in einem Lebenswerk zusammenbekommen. Ganz weit vorn ist sie damit auch in der Entwicklung einer neuen Form von großem avantgardistischem politischem Theater. Górnicka kommt von der Musik und der Choreographie und hat nicht nur an der Schauspielakademie, sondern auch an der Musikhochschule Frédéric Chopin in Warschau studiert. Für ihr meist rein chorisches Theater hat sie ein eigenes Vokal- und Aktions-Training für Stimme und Körper entwickelt. Welchen Perfektionsgrad mit dieser Methode selbst ein mittleres Staatstheater erreicht, ist verblüffend, zumal der 23köpfige Chor, der in M(other) Courage auf der Bühne steht, sich aus nur sechs Schauspielerinnen und Schauspielern des Staatstheaters Braunschweig, aber 17 Laien aller Alters- und Bevölkerungsschichten zusammensetzt. In der Mitte des Publikums aber steht die Regisseurin und Choreographin selbst und dirigiert. Eigens für sie, die kein Deutsch versteht, wird die englischsprachige Übersetzung des Textes an der Hinterbühne eingeblendet – bei manch stampfendem, schnellem Stakkato fungiert diese auch als Hörhilfe für den Zuschauer.
Wann er allerdings Ironie hört, wann Aggression, wann Anklage und wann Sarkasmus, wann wahre Angst und wann Zynismus – das mag durchaus individuell unterschiedlich sein. Mal wird Deutschland ironisch überhöht, mal unterschwellig kritisiert, mal glauben wir die Ängste der Bevölkerung herauszuhören, oft die dümmlichen Pegida-Parolen – meist ist das alles ineinander verzahnt, manchmal gar gleichzeitig zu hören. Auch musikalisch werden die unterschiedlichsten Stile dieses Sprechgesangs ineinander verwoben; in Windeseile verwandeln sich melodische Harmonien in aggressive Märsche und diese wieder in fröhliche Kinder-Reime. Oft wird die Musik vom gesprochenen Text konterkariert.
Aber eigentlich sind die Stimmen aus einem widersprüchlichen Land ja sowieso egal: „Diese Dinge treten in der Wirklichkeit nicht auf“, wiederholen die Akteure in einem langen Stakkato ... - Am 13. Januar 2016, so droht das Staatstheater Braunschweig an, werde diese Aufführung zum letzten Mal gezeigt. Die Jury des Berliner Theatertreffens möge das verhindern und die Derniere dieses einzigartigen Abends hinausschieben!