Homosexualität im Fußball
Northbridge ist nicht Southampton. Der FC Southampton, gerühmt für die beste Nachwuchsarbeit in der britischen Premier League, ging vor wenigen Tagen im Viertelfinale des englischen Ligapokals mit 1 : 6 gegen Jürgen Klopps wiedererstarkten FC Liverpool unter. Die (fiktive) Mannschaft von Northbridge Town trifft in Chris Chibnalls Stück Seitenwechsel nicht im League Cup, sondern im FA Cup auf den FC Liverpool. Northbridge ist Drittligist, erreicht aber im Hinspiel im heimischen Stadion ein sensationelles Unentschieden. Die Nachwuchsarbeit von Northbridge ist … drücken wir es höflich aus: unauffällig. Einen aber gibt es, dem man das Potential zubilligt, ein ganz Großer zu werden: den 17jährigen Darren Quinn. Er schießt den Ausgleich gegen Liverpool. Und küsst den Trainer auf den Mund. Mit dem perfekten Zungenkuss. Denn Darren ist in seinen Trainer verliebt.
Hitzlsperger war gestern – waren Darren und George vorgestern? Chibnalls Monolog-Stück wurde im Oktober 2004 uraufgeführt, lange vor dem im westlichen Kulturkreis weitgehend akklamierten Coming Out von Thomas Hitzlsperger. Aber Hitzlsperger outete sich nach dem Karriere-Ende. Es ist zu bezweifeln, ob ein schwuler aktiver Fußballer heute seinen Weg gehen könnte, ohne massivste Angriffe und Beleidigungen aus der gegnerischen Fan-Szene – und von gegnerischen Spielern – erdulden zu müssen. Eher würde es ihm wohl ergehen wie Justin Fashanu, der in den 1990er Jahren aufgrund seiner eingestandenen Homosexualität gemobbt und sogar von seinem Trainer verunglimpft wurde. Fashanu beging später Selbstmord, nachdem er von einem 17jährigen Jungen der Vergewaltigung bezichtigt wurde. Noch im Abschiedsbrief stritt er den Vorwurf ab; nach seinem Tode wurde die Untersuchung aus Mangel an Beweisen eingestellt.
Das Westfälische Landestheater Castrop-Rauxel bringt das immer noch brisante Thema der Homosexualität im Fußball jetzt auf die Theaterbühne. Die Premiere feierte es in einer angemessenen Location: im Kölner Sport und Olympia Museum. Das hat sich zur Aufgabe gemacht, Sport, Kultur und Gesellschaftspolitik immer wieder durch entsprechende Ausstellungsschwerpunkte, Filmvorführungen oder Theateraufführungen zu verbinden. Riko Reinigers Zigeuner-Boxer war dort zum Beispiel zu sehen, die Lebensgeschichte des sinto-deutschen Boxers Johann Trollmann, der im nationalsozialistischen Konzentrationslager ums Leben kam. Den Trollmann spielte Andreas Kunz, der auch jetzt wieder in Chibnalls Seitenwechsel als Trainer George auftritt: langhaarig, ein wenig verlebt und mit all den rauen Sprüchen, die man aus der Fußball-Branche kennt. Er coacht laut, humorlos und aggressiv – wobei die Humorlosigkeit nicht für das Stück gilt: „Wenn du nochmal eine solche Chance vergibst, ist die einzige Aufstellung, auf die dein Name noch kommt, die eines Auftragskillers“, tobt George. Hart, aber herzlich.
Ob George selbst schwul ist, bleibt lange fraglich. Er ist verheiratet, hat einen Sohn und fühlt sich völlig überrumpelt von Darrens Liebeserklärung. Homoerotische Neigungen in seiner Jugendzeit, die ihm viel Aggression und Ablehnung im Sport eingetragen haben, hat er erfolgreich verdrängt. Was jetzt, nach dem unglücklicherweise von einem Pressefoto dokumentierten intimen Kuss (auf dem Heimweg, keineswegs im Stadion!), über George hereinbricht, ist die Apokalypse: umgehender Job-Verlust, Trennung von Ehefrau und Kind, Ablehnung durch enge Freunde und Kollegen, Obszönitäten und Drohanrufe, eine Hetzjagd der Presse. Unbekannte demolieren sein Auto, selbst der Co-Trainer unterstellt ihm die Verführung Minderjähriger: „Vögelst du dich jetzt durch die ganze Jugendmannschaft?“ George wird zum Outcast, zum Unberührbaren. Nur Darrens Vater, gleichzeitig dessen Spielerberater, versucht ihn mit einem unseriösen Angebot zu korrumpieren: Gewinnbeteiligung bei einem Transfer des Nachwuchsspielers in die Premier League unter der Bedingung, dass der Trainer die Schuld für den Vorfall auf sich nimmt und öffentlich erklärt, dass Darren heterosexuell sei. Wie hatte George schon in seiner eigenen Jugend gelernt: „Wenn ich weiter Fußball spielen will, darf ich so einer nicht sein.“
Was George widerfährt, ist eine Kumulation aller Alpträume, die ein schwuler Sportler vor seinem Coming Out haben mag. Im Fußball, das macht dieses Stück deutlich, kann das bis zur völligen Vernichtung der Existenz führen. Allerdings ist die brave Aneinanderreihung aller vorstellbaren Negativ-Reaktionen und die völlige Abwesenheit von Figuren, die George gegen die Angriffe in Schutz nehmen, gleichzeitig die Schwäche des Stücks, das trotz der derben, schonungslosen Fußballer-Sprache ein bisschen bieder und vor allem einfach gestrickt daherkommt. Auch stellt sich die Frage, ob es geschickt ist, mit Darren ausgerechnet einen Minderjährigen zum homosexuellen Möchtegern-Partner des Trainers zu machen: Wenn ein Übungsleiter in den Verdacht käme, ein 17jähriges Mädchen aus seiner Mannschaft sexuell zu belästigen, wäre der Aufruhr im Verein, in der Elternschaft und in der Stadt wohl ebenfalls vernehmlich und die Kündigung wegen angeblichen Missbrauchs Schutzbefohlener nicht ausgeschlossen. Dennoch: Das Stück spricht ein in der Lebenswirklichkeit des jugendlichen Zielpublikums wichtiges Thema an, und der Transfer in andere Lebensbereiche fällt nicht schwer: Toleranz zu üben ist nicht nur im Hinblick auf sexuelle Orientierung, sondern auch im Hinblick auf die Zugehörigkeit zu bestimmten Ethnien oder Religionen wichtig. Überzeugend gelingt auch die Sensibilisierung des Publikums für den erbarmungslosen und vorurteilsbehafteten Umgang von Öffentlichkeit und Medien mit – in diesem Fall ohne ihr eigenes Zutun – unter Druck geratenen Personen.
Andreas Kunz gibt dem Trainer eine raue Schale und einen weichen Kern. Als Antreiber der harte Hund, schimmert doch eine gewisse Zuneigung, wenn nicht sogar Stolz auf seine Spieler durch, wenn er deren – fast nur negative – Eigenschaften auf witzige Weise karikiert. Und wenn er nach Darrens Kuss-Attacke die körperliche Attraktivität des Spielers entdeckt, wird der Mann mit der derben Sprache plötzlich sogar poetisch. Überzeugend verkörpert er den unbeugsamen, unbestechlichen und charakterfesten Erwachsenen, der seinen jungen Spieler schützt, selbst wenn er sich damit den Versuch der eigenen Entlastung versagen muss. Der Trainer wird am Ende tatsächlich im Pokalfinale stehen. Mit einem Frauen-Team. Dem hat er das Erfolgsrezept vermittelt: „Auf Integrität und Teamarbeit kommt es an.“ Und auf gegenseitige Akzeptanz. Das gilt für alle Lebensbereiche. Vielleicht schluckt der eine oder andere jugendliche Theaterbesucher ja am kommenden Wochenende die Bemerkung herunter, die er bei umstrittenen Spielszenen auf dem Fußballplatz sonst schnell im Mund führt: „Ey, Schiri, du schwule Sau, du!“